ZÜPP

Fachartikel - Dezember 2023

Häusliche Gewalt im psychotherapeutischen Prozess

Dr. phil. Luljeta Shaqiri-Emini referierte an der ZüPP-Fortbildung im November 2023 zu häuslicher Gewalt, die gemäss aktuellen Kriminalstatistiken in den letzten Jahren leider zunahm. Wichtige Anlaufstellen für Betroffene und Psychotherapeut:innen sind im nachfolgenden Fachartikel aufgeführt.

Häusliche Gewalt als einmalig oder wiederholt auftretendes Ereignis stellt einen wichtigen ätiologischen Faktor in der Entwicklung psychischer Störungen sowie deren Aufrechterhaltung dar. Offizielle Zahlen in der Kriminalstatistik des Bundesamtes für Statistik zeigen über die letzten Jahre eine Tendenz der Zunahme häuslicher Gewalt. Bis zu 30% der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz sind gegenwärtig von häuslicher Gewalt betroffen. Es wird von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen. Häusliche Gewalt in Form von körperlicher Züchtigung als Teil des Sozialisierungsprozesses ist eine «alte Bekannte» der letzten Jahrhunderte und war lange Zeit sozial akzeptiert. In vielen Kulturen und Gesellschaften ist häusliche Gewalt nicht mehr sozial akzeptiert und toleriert! Trotzdem existiert sie in vielen Familien und bei vielen Paaren noch immer. Häusliche Gewalt ist ein sozialgesellschaftliches Phänomen, welches von Generation zu Generation weitergegeben wird und somit fortbesteht. So auch in diesem Jahrhundert und mitten unter uns!
 

Betroffene Personen

Für Betroffene von häuslicher Gewalt bedeutet dies Angst zu haben, sich unwohl zu fühlen und immer vorsichtig zu sein, um in den eigenen vier Wänden ja keinen Anlass für häusliche Gewalt zu geben. Dabei geht es um sich bedroht fühlen und Angst haben vor Personen, die sie lieben und ihnen nahestehen. Oft wird es als phasenweise «Kriegs-Lebens-Atmosphäre» im eigenen Zuhause beschrieben.

Betroffene stehen emotional und sozial in grossem Dilemma. Einer Drittperson über häusliche Gewalt zu erzählen, bedeutet für sie, die von ihnen geliebten Menschen zu verraten. Gleichzeitig werden starke Ängste aktiv, von diesen Personen wieder verletzt zu werden. Dies, weil die Personen, welche Gewalt ausüben, in ihren Rollen als Bezugspersonen auch gute Anteile haben. Die Hoffnung besteht fortwährend, dass die Person, welche Gewalt ausübt, irgendwann einsichtig ist, es bereut und sich nur noch lieb sowie wohlwollend verhält und somit einem nicht mehr verletzt – weder physisch noch emotional.


Psychotherapeutischer Prozess

Im psychotherapeutischen Prozess ist es in erster Linie wichtig einen wertfreien und vorurteilsfreien Raum der therapeutischen Sicherheit zu schaffen, in welchem Betroffene über ihr Leid sprechen können. Es ist ein wichtiger Faktor, der in verschiedenen Phasen des psychotherapeutischen Prozesses, von der Exploration, der Anamneseerhebung, der Biographiearbeit bis hin zur Rückfallprophylaxe und Katamnese/Follow-up von Bedeutung ist und berücksichtig werden sollte. Im weiteren Verlauf können im Rahmen des Aufbaus sozialer Kompetenzen gezielt kommunikative deeskalierende Kommunikationsstrategien aufgebaut werden, damit es zu einer Reduktion der Vorfälle häuslicher Gewalt kommt. In diesem Zusammenhang sind folgende ausgewählte Faktoren von grosser Wichtigkeit:

  • eine hoch differenzierte psychotherapeutische Vorgehensweise und Haltung zum Thema häusliche Gewalt
  • eine klare konsequente Trennung der Schuldfrage und der therapeutischen Ziele/Aufträge und gleichzeitig die Nicht-Legitimation von Gewalt seitens der Person, welche Gewalt ausübt
  • Begrenzung auf die Therapeut:innen-Rolle (weder Rettungs- noch Richterperson)
  • eine hohe Verantwortung über eigene Anteile im Umgang mit häuslicher Gewalt
     

Von hoher Relevanz in Bezug auf den Faktor Sicherheit ist eine gute Einschätzung des Gefährdungspotentials seitens gewaltausübender Person für direkt Betroffene sowie indirekt Betroffene, wie z.B. familiäres Umfeld, Freundeskreis und Fachpersonen wie Hausärzt:innen, Gynäkolog:innen, soziale Einrichtungen und wir als behandelnde Psychotherapeut:innen. Eine regelmässige «Risikoeinschätzung» ist somit Teil eines psychotherapeutischen Prozesses in der Behandlung von Betroffenen häuslicher Gewalt und führt dazu, dass psychotherapeutische Schritte gut reflektiert und wirksam eingesetzt werden, so dass sie nicht zu einer Risikoerhöhung häuslicher Gewalt und somit Eskalation führen (unerwünschte Nebenwirkung). Hinzu kommt im Einverständnis mit den Betroffenen eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit mit bereits involvierten Fachstellen sowie eine Kontaktaufnahme zu weiteren Anlaufstellen wie z.B. kantonalen Opferberatungsstellen. 
 

Fazit

Zusammenfassend ist es für uns Psychotherapeut:innen wichtig das nötige Fachwissen über häusliche Gewalt anzueignen, uns interdisziplinär adäquat einzubringen und Verantwortung im Bereich Behandlung und Prävention häuslicher Gewalt im Rahmen der psychologischen Psychotherapie unserer Patient:innen, welche von häuslicher Gewalt betroffen sind, zu übernehmen. Somit kann der Gewaltkreislauf reduziert werden.

 

Anlaufstellen für Betroffene häuslicher Gewalt

 

Spezifisch für Kinder und Jugendliche


Anlaufstellen für Psychotherapeut:innen


Internationale und nationale Organisationen


Literatur

  • Büttner, M., (2020). Handbuch Häusliche Gewalt, Schattauer. Grundlagenwerk für Aufklärung, Intervention, Beratung und Therapie. Schattauer.
  • Bundesamt für Statistik (BFS). Kriminalstatistik, Gewalt, Häusliche Gewalt
  • Kernberg, O. (2016). Hass, Wut, Gewalt und Narzissmus. Hersg. Ermann, M., Lindauer Beiträge zu Psychotherapie und Psychosomatik. Kohlhammer.
  • Frei, M. (2020). Masterthesis: The making of a number: Counting attempted and completed killings of woman in the domestic sphere. HSLU. https://zenodo.org/record/7219827
  • Steingen, A., (2019). Häusliche Gewalt. Handbuch der Täterarbeit. Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Rosenberg, M. B., ((2016). Achtsame Kommunikation, Eine Sprache des Lebens, 12.te überarbeitete Auflage. Junfermann Verlag, Paderborn.
  • Antonovsky, A., (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Deutsche Hrsg. von Alexa Franke. dgvt-Verlag, Tübingen 1997, ISBN 978-3-87159-136-5.
  • Wydler, H., Kolip, P., Abel T. (2000). Salutogenese und Kohärenzgefühl – Grundlagen, Empirie und Praxis eines gesundheitswissenschaftlichen Konzeptes. Juventa, Weinheim, ISBN 978-3-7799-1414-3.

 

Über die Autorin:

Dr. phil. Luljeta Shaqiri-Emini ist eidg. anerkannte Psychotherapeutin und Supervisorin FSP.  Sie arbeitet seit fast zwanzig Jahren psychotherapeutisch mit Patient:innen, hauptsächlich Frauen, welche Opfer häuslicher Gewalt wurden. Sie hat an der Universität Zürich ihren Master in Klinischer Psychologie und Psychotherapie sowie parallel zur Promotion auch das MAS in Kognitiver Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin absolviert.