ZÜPP

Fachartikel - Juni 2023

Wirksamkeit von Antidepressiva - eine kritische Analyse

PD Dr. Michael P. Hengartner hat an der ZüPP-Fortbildung im Juni eine kritische Analyse zur Wirksamkeit von Antidepressiva präsentiert, an der rund 150 Personen vor Ort und Online teilnahmen. Die wichtigsten Aspekte sind in seinem nachfolgenden Fachartikel zusammengefasst.

Die Frage nach der Wirksamkeit von Antidepressiva in der Behandlung von depressiven Störungen bewegt seit Jahrzehnten die Gemüter. Auch mit den neusten verfügbaren, wissenschaftlichen Daten lässt sich die polarisierende Frage nach dem Risiko-Nutzen-Verhältnis aber nicht eindeutig beantworten. Wir können allerdings mit Sicherheit sagen, dass rund jede zweite klinische Studie negativ ausfällt. Dies insbesondere auch, wenn die zahlreichen unveröffentlichten Studien berücksichtigt werden. Das heisst, in rund 50% aller randomisierten, kontrollierten Studien schneidet das Antidepressivum statistisch nicht besser ab als ein Placebo (ein Scheinmedikament ohne Wirkstoff). Dies war lange Zeit vielen Behandelnden und Forscher(inne)n nicht bekannt, da wie oben erwähnt, negative Studien häufig nicht veröffentlicht wurden. Wir wissen weiter, dass über alle verfügbaren Studien hinweg der durchschnittliche therapeutische Effekt anhand der meistverwendeten Depressionsskalen schwach ausfällt und von fraglicher klinischer Relevanz ist. 

Auswirkungen von Antidepressiva

Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass Antidepressiva keine pharmakologische Wirkung haben. Die Medikamente können je nach Substanzklasse eine beruhigende, schlafanstossende oder auch aktivierende und gefühlsdämpfende Wirkung haben, welche einige Patient(inn)en als sehr hilfreich empfinden in der Bewältigung ihrer Depression. Andere Patient(inn)en wiederum erleben diese Effekte eher als störend oder unangenehm: Sie fühlen sich schläfrig und matt, oder nervös und agitiert. In vielen Fällen wirkt sich das Medikament positiv auf einige Depressionssymptome aus (z.B. mehr Antrieb und Energie, mehr emotionale Distanz) und gleichzeitig negativ auf andere (z.B. Verschlechterung von Schlaf, mehr innere Anspannung, Appetitlosigkeit). Aufgrund dieser gegensätzlichen Wirkungen auf die Depressionssymptomatik fällt der durchschnittliche Effekt auch so gering aus, da sich positive und negative Effekte über alle Patient(inn)en hinweg weitgehend, aber nicht vollständig, aufheben. 

Eine ganz aktuelle meta-analytische Arbeit der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA legt zudem nahe, dass nicht alle Patient(inn)en gleich gut auf Antidepressiva ansprechen. Ihre Daten suggerieren, dass rund 15% aller Patient(inn)en eine starke anti-depressive Wirkung erfahren, bei den anderen 85% scheinen die Medikamente jedoch weitgehend wirkungslos. Diese explorativen Befunde müssen aber zuerst noch unabhängig bestätigt werden. Weiterhin gilt zu beachten, dass in dieser Arbeit nur die therapeutische, anti-depressive Wirkung untersucht wurde, nicht aber unerwünschte Effekte oder Nebenwirkungen. Wir wissen jedoch aus zahlreichen Untersuchungen, dass die meistverschriebenen Antidepressiva wie die Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer in vielen Fällen, das heisst in über der Hälfte aller Patient(inn)en, sexuelle Funktionsstörungen wie Anorgasmie und Libidoverlust verursachen. Zudem führt die Einnahme von Antidepressiva häufig zu Schlafstörungen oder verschlechtert bereits bestehende Schlafprobleme. 

Absetzen von Antidepressiva

Inzwischen erhärtet die wissenschaftliche Evidenz immer mehr, dass gerade nach längerer Einnahme das Absetzen der Medikamente schwierig sein kann. Bei einigen Patient(inn)en können aufgrund neurophysiologischer Anpassungsprozesse (adaptive Gegenregulation des Körpers, um die pharmakologischen Effekte auszugleichen, z.B. Reduktion von Anzahl und Sensitivität der postsynaptischen Serotonin-Rezeptoren) starke und mitunter schwer beeinträchtigende Entzugssymptome wie Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, Müdigkeit, Stimmungsschwankungen, Übererregung, Angst, Reizbarkeit und elektroschockartige Empfindungen auftreten. In gewissen Fällen sind die Entzugssymptome so schwerwiegend und unerträglich, dass (zu rasche) Absetzversuche wiederholt scheitern. Auch werden diese Entzugserscheinungen vermutlich häufig als Rückfälle oder neu-auftretende psychische Störungen fehl-diagnostiziert. Diese Annahme bedarf jedoch noch einer genaueren wissenschaftlichen Überprüfung.
Eine sorgfältige Risiko-Nutzen Abwägung und eine vollumfängliche Aufklärung über mögliche Probleme beim Absetzen sind darum vor jeder Antidepressiva-Verschreibung zwingend notwendig. Ob die erwünschten, therapeutischen Effekte die unerwünschten (Neben-)Wirkungen überwiegen, und falls ja, in welchem Ausmass, kann auf Einzelfallebene aber leider nur schwer beurteilt werden. 

Literatur

Hengartner MP (2022). Evidence-biased antidepressant prescription: overmedicalization, flawed research, and conflicts of interest. London: Palgrave Macmillan.

Hengartner MP, Plöderl M (2022). Estimates of the minimal important difference to evaluate the clinical significance of antidepressants in the acute treatment of moderate-to-severe depression. BMJ Evid Based Med, 27: 69-73.

Horowitz MA, Taylor D (2022). Distinguishing relapse from antidepressant withdrawal: clinical practice and antidepressant discontinuation studies. BJPsych Advances, 28: 297-311.

Turner EH, Matthews AM, Linardatos E, Tell RA, Rosenthal R (2008). Selective publication of antidepressant trials and its influence on apparent efficacy. N Engl J Med, 358: 252-260.

Serretti A, Chiesa A (2009). Treatment-emergent sexual dysfunction related to antidepressants: a meta-analysis. J Clin Psychopharmacol, 29: 259-266.

Stone MB, Yaseen ZS, Miller BJ, Richardville K, Kalaria SN, Kirsch I (2022). Response to acute monotherapy for major depressive disorder in randomized, placebo controlled trials submitted to the US Food and Drug Administration: individual participant data analysis. BMJ, 378: e067606.
 

Über den Autor:

PD Dr. Michael P. Hengartner ist Dozent am Departement für Angewandte Psychologie der ZHAW. Zusätzlich arbeitet er als Berater und Psychotherapeut. Er hat über 160 Fachartikel publiziert, ist Mitglied in verschiedenen Fachgremien wie der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie und war Expertengutachter für die Europäische Forschungskommission und der WHO für die Revision derer Behandlungsleitlinien für psychische Störungen.