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Strafrechtliche Gutachten - Psycholog(inn)en als Sachverständige?

Im Gegensatz zu den zivil- und familienrechtlichen Gutachten werden strafrechtliche Gutachten von den Strafrechtsbehörden wie Staatsanwaltschaften, Jugendanwaltschaften oder Gerichten in Auftrag gegeben, wenn Hinweise bestehen, dass der Beschuldigte psychische Auffälligkeiten aufweist. Es gibt im Kanton Zürich nur wenige spezialisierte Fachpsycholog(inn)en, die im Bereich der strafrechtlichen Begutachtung tätig sind.

 

Strafrechtliche Gutachten im Erwachsenenbereich

Bei strafrechtlichen Gutachten im Erwachsenenbereich, das heisst bei sogenannten «komplexen Fragestellungen» mit prognostischen Beurteilungen, Einschätzung der Schuldfähigkeit und Massnahmenempfehlungen sind gemäss den aktuellen Bundesgerichtsentscheiden und der Verordnung über psychiatrische und psychologische Gutachten in Straf- und Zivilverfahren (PPGV) des Kantons Zürich ausschliesslich psychiatrische Sachverständige vorgesehen. Es ist darum für forensisch ausgebildete Psycholog(inn)en aktuell nicht möglich, in diesen Bereichen ihre Fachexpertise im Rahmen einer selbständigen Gutachtenserstellung einzubringen. Inwiefern dies inhaltlich sinnvoll ist, bleibt sehr umstritten (z.B. Frischknecht et al. 2012). In anderen Ländern, wie Deutschland beispielsweise, können auch forensisch ausgebildete Psycholog(inn)en strafrechtliche Gutachten im Erwachsenenbereich erstellen.

 

Jugendstrafrechtliche Gutachten

Im Gegensatz zum Erwachsenenstrafrecht ist im Jugendstrafrecht weniger klar geregelt, welche Berufsgruppe als forensische Sachverständige von den Behörden herangezogen werden kann. Der Gesetzgeber trifft im Jugendstrafrecht hinsichtlich der Person und der Qualifikation des Gutachters keine Aussage. Es wird jedoch in den entsprechenden Gesetzesartikeln explizit von einer «medizinischen oder einer psychologischen Begutachtung» gesprochen, welche zur Beurteilung der physischen oder psychischen Gesundheit und einer damit einhergehenden Notwendigkeit einer Unterbringung herangezogen werden sollte. In den weiteren Materialien zum Jugendstrafrecht ist zudem ersichtlich, dass es sich bei Sachverständigen um klinische Psycholog(inn)en oder Ärzte handeln muss, die über das erforderliche medizinische und/oder psychologische Fachwissen verfügen. Sie müssen in der Lage sein, eine Diagnose sowie eine Prognose zu erstellen sowie Empfehlungen hinsichtlich der geeigneten Massnahmen für den/die Jugendliche(n) abzugeben. 

 

Schwer verständliche Unterscheidung

Die unterschiedlichen Regelungen für jugend- bzw. erwachsenenstrafrechtliche Gutachten sind aufgrund der rechtlichen Grundlagen und der verschiedenen involvierten Behörden zwar formal nachvollziehbar, bleiben aber inhaltlich schwer verständlich. So sind die strafrechtlichen Gutachten im Jugendbereich in der Regel umfassender und komplexer als diejenigen im Erwachsenenbereich. Neben der Frage einer allfällig vorhandenen psychischen Störung und deren Auswirkungen stellt sich im Jugendbereich nämlich weiter die Frage nach dem Stand der Persönlichkeitsentwicklung und der psychischen Reife des Jugendlichen sowie dem Einfluss von einer allfälligen erzieherischen Fehlentwicklung. Diese Beurteilungen bedürfen eines umfassenden psychologischen Wissens zu Auswirkungen von familiären und sozialen Einflüssen sowie fundierte Kenntnisse der Entwicklungspsychologie. Das schweizerische Jugendstrafrecht ist zudem ein Täterstrafrecht, d.h. der jugendliche Straftäter und nicht seine Tat(en) stehen im Vordergrund. Dementsprechend müssen die persönlichen und familiären Verhältnisse zur Prävention weiterer Delikte und zur Verhinderung von kriminellen Karrieren vertieft abgeklärt werden. Warum Psycholog(inn)en für die selbständige Erstellung von komplexeren jugendstrafrechtlichen Gutachten zugelassen sind, aber bei den erwachsenenstrafrechtlichen Gutachten ausgeschlossen werden, ist aus fachlicher Sicht nicht begründbar.

 

Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist sinnvoll und notwendig

Jedes strafrechtliche Gutachten beinhaltet psychologische sowie psychiatrische bzw. medizinische Fachkenntnisse. Psycholog(inn)en sowie Psychiater(innen) sollten dementsprechend interdisziplinär und auf Augenhöhe zusammenarbeiten und sich gegenseitig fachspezifisch ergänzen. Während psychiatrische Fachpersonen spezifischere Kenntnisse im Bereich des komplexen Zusammenspiels von somatischen und psychopathologischen Aspekten sowie psychopharmakologische Kenntnisse aufweisen, besitzen psychologische Fachpersonen spezifischere Kenntnisse in der Entwicklungspsychologie, der Persönlichkeitsbeurteilung und der methodischen Kompetenz bei testpsychologischen Fragestellungen. Letzteres ist vor allem auch im Bereich der prognostischen Aussagen zentral, haben sich doch klinisch unstrukturierte Prognosen als nicht valide erwiesen. Leider muss der Auftragnehmer eines forensischen Gutachtens immer eine «natürliche Person» sein, welche für ein falsches Gutachten persönlich haftbar gemacht werden kann. Es ist daher formal-rechtlich nicht möglich, eine interdisziplinäre Institution oder ein psychologisch-psychiatrisches Team mit einem Gutachten zu beauftragen. Es ist jedoch sowohl für eine(n) psychologische(n) als auch für eine(n) psychiatrische(n) Gutachter(in) immer möglich, Sachverständige aus dem jeweils anderen Berufsfeld für spezifische Teilfragestellungen hinzuziehen.

 

Wie wird man psychologische(r) Sachverständige(r) im Jugendstrafrecht?

Wer gerne im Jugendstrafrechtsbereich als Sachverständige(r) tätig sein will, benötigt ein abgeschlossenes Studium der Psychologie, eine psychotherapeutische bzw. klinische Weiterbildung mit entsprechender Berufserfahrung (z.B. eidg. Anerkennung als Psychotherapeut/in) sowie (jugend-)forensische bzw. rechtspsychologische Kenntnisse. Die notwendigen rechtspsychologischen Fachkenntnisse kann man in der Ausbildung zum «Fachpsychologen/in für Rechtspsychologie FSP» erwerben (www.rechtspsychologie.ch). Dieser Fachtitel ist die Grundlage für die Arbeit in der forensischen Psychologie. Spezifische Kenntnisse für den jugendforensischen Bereich, insbesondere für straf- und zivilrechtliche Gutachten, können in einer von Psycholog(inn)en und Psychiater(innen) interdisziplinär angebotenen Fortbildung erworben werden. Die Schweizer Sektion der europäischen Vereinigung «European Forensic Child and Adolescent Psychiatry, Psychology and Allied Disciplines (EFCAP)» bietet diese zweijährige Fortbildung mit Theorieblöcken und Praxisseminaren in Zürich, Bern und Basel an (www.efcap.ch). Alle Fortbildungsmodule können an den Fachtitel Rechtspsychologe/Rechtspsychologin FSP angerechnet werden. Weitere Informationen sind hier verfügbar: www.wb-kjforensik.ch. Bevor man jedoch als selbständige(r) Gutachter(in) von den Berufsverbänden anerkannt wird, ist eine mehrjährige Erfahrung als Gutachter(in) und eine Zertifizierung notwendig. Aktuell wird von der Schweizerischen Gesellschaft für Rechtspsychologie (SGRP) und der Schweizerischen Gesellschaft für Forensische Psychiatrie (SGFP) eine einheitliche Regelung mit einer interdisziplinären Anerkennung angepasst.

 

Schlussfolgerungen für die zukünftige Praxis

Es wäre zu wünschen, dass die Voraussetzungen zum jugendforensischen Sachverständigen nicht nur in den Berufsverbänden sondern schweizweit vom Bund im Rahmen von gesetzlichen Verordnungen verbindlich und einheitlich geregelt werden. Neben psychiatrischen Sachverständigen sollten zudem auch psychologische Gutachter(innen) für die zentralen Fragestellungen der Risikoprognose, der Schuldfähigkeit und der Massnahmenempfehlung im Erwachsenenbereich zugelassen werden. Dafür sollten die Sachverständigen beider Berufsgruppen die notwendigen Kenntnisse mittels einer Zertifizierung nachweisen und zur interdisziplinären Zusammenarbeit bereit sein. Weiter sollten (Minimal-)Standards bezüglich Gütekriterien definiert werden, welche bei den Gutachten berücksichtigt werden müssen. Ein entsprechender Vorschlag für jugendstrafrechtlichen Gutachten wurde von einem interdisziplinären Autorenteam aus juristischer, psychologischer und psychiatrischer Sicht erstellt (Aebi et. al 2018, siehe unten). Es wäre zudem hilfreich für die Auftraggeber, auf eidgenössische Registerdaten zugreifen zu können um zertifizierte Sachverständige zu bestimmen. Eine Erweiterung des medizinischen MedReg und des psychologischen Berufsregisters PsyReg für Gutachtertätigkeiten wäre dazu aus Sicht des Autors sehr sinnvoll.

 

Autor:
PD Dr. phil. Marcel Aebi ist zertifizierter Gutachter SGRP, Fachpsychologe für Rechtspsychologie FSP sowie eidgenössisch anerkannter Psychotherapeut mit eigener Praxis in Zürich (Praxis für Gutachten und Therapie, www.kjforensik.ch).


Weiterführende Literatur:
Aebi, M., Imbach, L., Holderegger, N., & Bessler, C. (2018) Jugendstrafrechtliche Gutachten in der Schweiz: Anforderungen aus juristischer, psychologischer und psychiatrischer Sicht. Allgemein Juristische Praxis AJP / PJA, 12.

Frischknecht, T., Schneider, E. & Schmalbach, S. (2012). Welcher Psy-Experte darf‘s denn sein? Kritische Überlegungen zur Auswahl von psychiatrischen und psychologischen Sachverständigen im Strafverfahren. Jusletter vom 21.05.2012 (https://jusletter.weblaw.ch).