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Vielversprechendes Citizen-Science-Projekt - März 2020

Psycholog(inn)en der Universität Zürich entwickeln App zur kindlichen Entwicklung

Eine der grossen Herausforderungen der frühkindlichen Entwicklungspsychologie bleibt bis heute, verschiedene Entwicklungsschritte von Kindern möglichst genau messbar und vergleichbar zu machen. Wie entdecken Kinder unsere Welt in ihren ersten Lebensjahren? Wie entwickeln sie sich nach der Geburt motorisch, sprachlich, sozial, emotional und kognitiv? Um an detailliertere Informationen zu den Faktoren zu kommen, die Einfluss auf die Geschwindigkeit und Reihenfolge der individuellen Entwicklung haben, beschreiten Forschende der Universität Zürich seit 2019 neue Wege.

Am Lehrstuhl Entwicklungspsychologie des Säuglings- und Kindesalters der Universität Zürich nutzt die Forschungsgruppe um Prof. Dr. Moritz Daum ergänzend zu klassischen Studien die modernen technischen Möglichkeiten für ein sogenanntes Citizen-Science-Projekt. Gemeinsam mit den Eltern, die den Kindern am nächsten stehen, sollen Forschungsdaten gesammelt werden. Mit der selbst entwickelten Smartphone-Applikation kleineWeltentdecker-App, die die Eltern mit Entwicklungsdaten ihrer Kinder speisen, vereinen die Psychologinnen und Psychologen seriöse wissenschaftliche Forschung mit spielerischer und dennoch fundierter Wissensvermittlung an die beteiligten Familien. Die Eltern erhalten von den Forschenden über die App dabei tiefgehende und aktuelle Informationen zu den einzelnen Entwicklungsschritten ihrer Kinder in der Motorik, Sprache und Wahrnehmung. Gleichzeitig helfen sie mit Angaben zu den neu erworbenen Fähigkeiten ihrer Kinder den Forschenden fortlaufend dabei, neue Erkenntnisse zu gewinnen und ihr Wissen zu verfeinern. 

Durch das Citizen-Science-Projekt ergeben sich neue Möglichkeiten, eine hochverdichtete Längsschnitt-Studie mit vielen Probanden und überschaubarem Fachpersonalaufwand durchzuführen, welche auch von anderen Forschungsgruppen genutzt werden könnten. Erste Auswertungen der bislang erhobenen Daten sind vielversprechend. Sollte der Datensatz perspektivisch internationale Ausmasse annehmen, könnten sogar kulturelle Unterschiede in der Kindesentwicklung zutage treten.

 

DAVON PROFITIEREN DIE ELTERN

Mit der kostenlosen «kleineWeltentdecker-App» erfahren Eltern auf unterhaltsame Weise Interessantes über die wichtigsten Entwicklungsschritte ihrer Kinder von der Geburt bis zum sechsten Lebensjahr. Dies gilt insbesondere für neue Fertigkeiten eines Kindes, die nicht so einfach zu erkennen sind wie das erste Lächeln, das erste Wort oder die ersten Schritte.

Über einfache, dem Alter des Kindes angepasste Fragen, können Mütter und Väter erfahren und dokumentieren, welche Fähigkeiten ihr Kind wann erworben hat: zum Beispiel, ob es einen Ball kicken kann, ob es auf seinen Namen reagiert oder einen Schnürsenkel binden kann. Zu jeder Frage gibt es eine wissenschaftliche Illustration sowie einen verständlichen Informationstext, der den aktuellen Forschungsstand wiedergibt.

Wollen Mütter und Väter mehr über einen bestimmten Fortschritt wissen, können sie gezielt bestimmte Fähigkeiten in der Motorik, der Sprache oder der Wahrnehmung suchen, auswählen und sich darüber vertieft informieren. Sie lernen, welche Voraussetzungen ihr Kind für diesen Entwicklungsschritt mitbringen muss und erhalten nützliche Tipps zur Förderung der Fortschritte.

Die Forschenden haben der App weitere spielerische Funktionen hinzugefügt, um die unentgeltliche Beteiligung attraktiv zu gestalten und die Nutzung über einen langen Zeitraum zu fördern: So können die Eltern die schönsten Momente in der Entwicklung ihres Kindes in einem individuellen, digitalen Tagebuch festhalten, wo auch immer sie gerade sind. Die App lässt sich zudem mit persönlichen Fotos und Anmerkungen ergänzen, die die Entwicklungsschritte illustrieren. Wer möchte, kann die erreichten Meilensteine wie die ersten gesprochenen Worte auch einzeln per SMS, E-Mail oder Social Media mit Verwandten und Freunden teilen. Das komplette Tagebuch steht zudem jederzeit auch als PDF-Download bereit, um im Familien- und Freundeskreis bestaunt zu werden.

 

DAVON PROFITIERT DIE FORSCHUNG:

Mit der regen Nutzung der App helfen die Eltern den Zürcher Psycholog(inn)en des Forschungsprojekts, wichtige Daten und Informationen zur Entwicklung von Kindern zu sammeln und auszuwerten. Bisher beteiligen sich bereits etwa 5500 Familien an dem Citizen-Science-Projekt. Mit wachsender Bekanntheit der App soll der Datensatz stetig grösser werden. 

Professor Daum und sein Team wollen die anonymisierten Daten über den Verlauf der individuellen Kindesentwicklung nutzen, um Zusammenhänge zwischen kognitiven, motorischen und sprachlichen Fähigkeiten besser zu erforschen. Dass die einzelnen Entwicklungsschritte nicht isoliert voneinander auftreten, sondern teilweise einander beeinflussen, ist die Grundannahme. Doch wie und wo sind diese Abhängigkeiten zu finden? Die App soll genau dazu Antworten liefern.

Die Vorteile der gewonnenen Daten aus der App gegenüber den klassischen, empirischen Methoden liegen auf der Hand: Sie offenbaren die entscheidenden Entwicklungsschritte in dem Alter, in dem sie tatsächlich passieren und damit unabhängig vom angenommenen Durchschnittsalter, in dem die neuen Fertigkeiten nach bisherigen Erkenntnissen auftreten. Sie sind eingebettet in zahlreiche weiterführender Informationen über Faktoren, die einen Einfluss auf die individuelle Entwicklung der Kinder haben könnten. Neue Erkenntnisse, warum die einen Kinder früher und die anderen erst ein wenig oder deutlich später eine bestimmte Fähigkeit erwerben, werden dadurch möglich.

Bisherige Studien mussten sich entweder mit dem statischen Entwicklungsstand einer bestimmten Altersgruppe begnügen, oder es wurden Langzeitstudien durchgeführt, die allerdings sehr zeit- und personalintensiv sind. Besonders im Labor sind Tests zum Entwicklungsstand daher nur schwer fortlaufend von der Geburt bis zum sechsten Lebensjahr für eine grosse Kinderzahl durchführbar. Selbst bei aufwändigen Langzeitstudien bleiben möglicherweise Feinheiten in der Entwicklung unentdeckt, die zwischen den einzelnen Tests auftreten, aber entscheidend für den untersuchten Entwicklungsschritt sein könnten. Die Zeit vor und nach dem festgelegten Messzeitpunkt sowie dynamischen Entwicklungen blieben deshalb bislang für die Wissenschaft im Dunkeln. 

Die Entwicklungs-Tagebuch-App soll nun etwas Licht in dieses Dunkel bringen. Sie transformiert die bislang üblichen Entwicklungsfragebögen, die von Eltern und Betreuungspersonen ausgefüllt werden konnten, ins digitale Zeitalter. Die Daten aus der App lassen nun auf Antworten auf eine Vielzahl an Forschungsfragen hoffen:

  • Wird die motorische Entwicklung davon beeinflusst, ob Kinder in der Stadt oder auf dem Land aufwachsen? 
  • Gibt es möglicherweise kulturelle Unterschiede bei der Sprachentwicklung? 
  • ​Könnte das Geschlecht einen Einfluss darauf haben, ob Kinder früher Lesen lernen als andere? 

Unzählige Gruppen- und Kohortenvergleiche im Altersquerschnitt sowie im Längsschnitt sind möglich, da auch Daten wie Herkunft, Schlafdauer und Betreuungssituation erhoben werden, sowie Angaben, wie viele Sprachen mit dem Kind gesprochen werden.

Im Vorfeld prüften die Forschenden anhand einer Referenzgruppe, ob die von den Eltern angegebenen Entwicklungsschritte auch im Labor mit den Kindern beobachtet werden konnten. Die Angaben der Eltern und die von Entwicklungspsycholog(inn)en erfassten Fähigkeiten stimmten sehr gut überein, was für eine gute Validität der App spricht.

DAS SIND DIE ERSTEN ERGEBNISSE:

Bereits bei den ersten Auswertungen hat sich die Hoffnung der Zürcher Psycholog(inn)en bestätigt, dass sich aus den von den Eltern eingegebenen Daten neue Erkenntnisse gewinnen lassen. So zeigte die Datenanalyse, dass Kinder in ähnlichen Zeiträumen erlernen, ihre Aufmerksamkeit gemeinsam mit ihren Gesprächspartnern auf einen bestimmten Gegenstand zu richten und erste Worte zu sprechen. Sie bestätigen damit frühere Studien, die zeigten, dass die soziale Entwicklung eng mit dem Spracherwerb verknüpft ist. Buben und Mädchen, die früher sozial interagieren, lernen demnach auch früher zu sprechen. Die Forschenden erwarten, künftig viele weitere Zusammenhänge innerhalb der Kindesentwicklung nachweisen zu können.

DATENSCHUTZ ALS ERFOLGSFAKTOR:

Ein strenger Schutz der persönlichen Daten spielt besonders in Citizen-Science-Projekten eine enorm wichtige Rolle, deren Vorteil gegenüber herkömmlicher Forschung die breite Beteiligung von Freiwilligen ist. Im Forschungsprojekts «kleineWeltentdecker-App» sowie in nachfolgenden Projekten muss der Datenschutz deshalb höchsten Ansprüchen genügen. Die gesamte App basiert auf dem Kooperationswillen der Eltern, die aber nur dann Details zu ihren Kindern preisgeben, wenn ihnen eine sensible und anonymisierte Weiterverarbeitung der Daten garantiert werden kann. Diese Herausforderung löst die Forschergruppe so einfach wie effektiv: Persönliche Daten wie sämtliche Namen, Kommentare und Fotos werden nur lokal auf dem Smartphone der Eltern gespeichert. Lediglich die anonymisierten Daten über erreichte Entwicklungsschritte ohne die genannten Details werden auf einem Server an der Universität Zürich gespeichert, auf den Externe keinen Zugriff haben. Zudem werden selbstverständlich die erst kürzlich verschärften rechtlichen Datenschutzrichtlinien vollumfänglich eingehalten.

Und eine weitere Erkenntnis ist bereits ein Jahr nach dem ersten Einsatz der App offenkundig: Wer bereit ist, auch abseits des eigenen Forschungsinteresses, zum Nutzen der Freiwilligen auch spielerische und informative Elemente mitzuentwickeln, wird mit einer hohen Beteiligung belohnt.

Hier gehts zur App für iOS-Nutzer und im Google Play Store.

Text: Karin Moertel (Journalistin) unter Mitarbeit von Marco Bleiker, Moritz Daum und Anja Gampe vom Psychologischen Institut der Universität Zürich