ZÜPP

Interview mit Prof. Dr. Christian Fichter - Juni 2020

"Psychologie nützt der Wirtschaft und Gesellschaft ähnlich wie Lesen und Rechnen." 

Christian Fichter leitet das Institut für Wirtschaftspsychologie sowie den Forschungsbereich der Kalaidos Fachhochschule. Anfangs 2020 ist er dem ZüPP beigetreten, und wir freuen uns, mit ihm ein Interview über seine Motivation für unseren Berufsverband und seine Arbeit zu führen. 

Christian Fichter, Du bist Sozial- und Wirtschaftspsychologe und hast dich dieses Jahr entschieden, Mitglied beim ZüPP und der FSP zu werden. Was war der Grund?

Meine Hauptmotivation ist die Stärkung des Gemeinsinns im Berufsstand der Psychologie. Wir müssen zusammenstehen und als Mitglied in einem Berufsverband die Psychologie stärken. Gerade kürzlich haben wir beim fragwürdigen Entscheid des BAG bezüglich den Online-Konsultationen durch Psychotherapeut(inn)en gesehen, wie wichtig es ist, sich auch politisch einzubringen. Ein weiteres Anliegen ist für mich die Förderung der angewandten Psychologie, welche für die Gesellschaft und die Wirtschaft sehr hohen Nutzen hat. 


Welche Rolle siehst du dabei für die Sozial- und Wirtschaftspsychologie? 

Das Wissen über Psychologie spielt aus meiner Sicht eine ähnliche Rolle wie Mathematik, Lesen oder Sprachen. Das Wissen um Psychologie ist insgesamt sehr wichtig, sowohl im Privaten und natürlich auch für die psychische Gesundheit. Ebenso relevant ist die Psychologie aber auch für gesellschaftliche Fragen und insbesondere in der Wirtschaft, welche unsere Kultur heute stark prägt. Wie gestalten wir das Zusammenleben von den Menschen in der globalisierten Welt, welchen Nutzen ziehen wir aus einer vernetzten Gesellschaft? Wirtschaftspsychologie verstehe ich als Dachbegriff für alle Bereiche in der Wirtschaft, wo der Mensch eine Rolle spielt und das ist eigentlich überall. Schon Ludwig Erhard, der Vater des deutschen Wirtschaftswunders, sagte, 50% der Wirtschaft seien Psychologie. Auch Adam Smith, der Begründer der modernen Ökonomie, war sich der Bedeutung des menschlichen Verhaltens für das Wirtschaften bewusst. Leider ging dieses Bewusstsein danach etwas verloren. Im Zug des Konsumaufschwungs seit den 60er Jahren wurden Wirtschaftsthemen mehrheitlich den Ökonomen überlassen, erst seit der Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises an den Psychologen Daniel Kahneman im 2002 nähern sich die Disziplinen wieder an. Historisch wurde die Psychologie in der Wirtschaft aber schon um 1900 herum erfolgreich eingesetzt, in der Arbeitsforschung und in der Werbung. Gerade aufgrund der Finanzkrise im 2008 erhielten psychologische Erklärungen für wirtschaftliche Vorgänge dann definitiv mehr Gewicht.


Du schreibst auch regelmässig im Tages-Anzeiger zu psychologischen Themen. Wie wählst du dort die Themen aus? 

Als ich bei Professor Norbert Bischof an der Universität Zürich in einer Vorlesung sass, bei ihm immer in der vordersten Reihe, sagte er: "Gehen Sie raus in die Welt und beobachten Sie". Das hat mich stark geprägt. Unsere Zeit ist so reichhaltig an Themen, die eine psychologische Betrachtung verdienen. Ich beobachte, was die Leute beschäftigt und versuche, das psychologisch zu verstehen. Damit geht das Themenfeld vom Ärger wegen Auspufflärm über das häufig falsche Verständnis von Stereotypen bis hin zu schlechten Studien über psychische Folgen der Coronapandemie. Dabei stütze ich mich auf meine Methoden- und Theoriekenntnisse, die ich als Psychologe erwerben durfte. Der Leser und die Leserin sollen einen Nutzen aus den Artikeln ziehen. Sehr viele wirtschaftspsychologische Themen sind für die Menschen relevant, so zum Beispiel nachhaltiger Konsum, Burnout-Prophylaxe oder der Wertewandel hin zu einem erfüllteren Berufsleben. Wir dürfen die Beantwortung dieser Fragen nicht Politik und Wirtschaft überlassen. Die psychologische Optik ist genauso wichtig. 


Mit welchen Fragestellungen beschäftigst du dich als Forschungsleiter an der Kalaidos Fachhochschule? 

Die Kalaidos Fachhochschule umfasst die Fachrichtungen Wirtschaft, Gesundheit, Musik und Recht, deren Gesamtforschung ich leite. Eigene Forschungsprojekte und Auftragsstudien führe ich im Wirtschaftsdepartement mit meinem Team durch. Zum Beispiel erforscht eine Mitarbeitern in ihrem SNF-Projekt die Situation von überfünfzigjährigen Berufstätigen. Viele Firmen trauen älteren Mitarbeitern weniger zu – zu Unrecht. Eine weitere aktuelle Studie untersucht die Akzeptanz von Chatbots im internen Support einer Firma. Dieses Projekt wird durch Innosuisse finanziert und ermöglicht damit die Analyse einer neuen Technologie, die von einem Startup entwickelt wurde. Ein weiteres Forschungsthema, das uns sehr interessiert, ist die Verhandlungspsychologie. Uns geht es darum zu zeigen, wie Verhandlungen dazu führen können, dass sie für beide Seiten einen Zusatznutzen erzielen. 


Seid Ihr auch zu Fragestellungen aus dem eher klassischen Bereich des Marketings aktiv? 

Kundenbefragungen machen wir auch, aber eher wenig im Bereich der Werbewirkung. Dort habe ich eine gewisse Skepsis, da mit den heutigen digitalen Möglichkeiten teilweise "Psychotricks" zum Nachteil der Konsument(inn)en angewendet werden, wie beispielsweise künstliche Verknappung oder Zeitdruck, die gar nicht existieren. Interessanter finde ich Projekte für nachhaltigen Konsum, Aufklärungskampagnen oder Emotionsarbeit.


Hast du ein Beispiel dafür?

Wir hatten ein Projekt für eine Grossfirma, deren Verkaufspersonal häufig mit aggressivem Verhalten von Kunden konfrontiert ist. Wir erarbeiteten Interventionsmassnahmen, um die Arbeitssituationen dieser Beschäftigten zu verbessern. Dazu gehörte zum Bespiel die Protokollierung der Vorfälle in einer App, Schulung des Personals in Achtsamkeits- und Entspannungsübungen, kognitives Umstrukturieren oder Bewusstmachung der Streitsituationen. Zukünftig könnten auch SmartWatches für die Messung des Stresslevels eingeführt werden. 


Wie veränderte die Coronapandemie Eure Forschungsprojekte?

Ein Swiss Economic Forum-Projekt zu Chancen der Schweizer Wirtschaft konnten wir gerade noch stoppen. Der bereits erarbeitete Fragebogen stimmt zwar noch, aber existenzielle Risiken oder internationale Beschaffungsketten spielen jetzt eine grössere Rolle. Auch das 50+ Projekt wurde angepasst, da der Druck auf dem Arbeitsmarkt mit Corona nochmals steigen wird. Verschiedenen Befragungen mussten natürlich verschoben werden, um Sondereffekte zu vermeiden oder Betroffene waren für Interventionen gar nicht im Büro anwesend.


Gibt es auch Forschungsthemen, die mit Corona plötzlich wichtiger wurden?

Speziell an Bedeutung gewonnen hat unser Projekt "Fear of Missing Out (FoMO)", für das wir eine Pilotstudie gemeinsam mit einem Psychologen der Universität Basel durchführen. Wir wollen untersuchen, was die heutige Multioptionsgesellschaft mit uns Menschen macht. Gerade der Lockdown hat ja gezeigt, dass sich viele Leute in dieser Zeit auch freier fühlten. Unsere Hypothese ist, dass es diese "FoMO" nicht nur im Privatleben gibt, sondern auch im beruflichen Kontext.  Dort werden häufig zu viele Projekte angegangen, die entweder nicht umgesetzt werden oder zu Erschöpfungsdepressionen führen können. Die Psychologie der Zielsetzungen gibt es ja schon seit Jahrzehnten und gewinnt nun wieder an Aktualität, wie dass zum Beispiel Ziele hierarchisiert und aufgeschrieben werden sollten. 


Welche Auswirkungen hatte diese erste Phase der Coronapandemie deiner Ansicht nach auf die Gesellschaft? 

Noch unklar ist ja zurzeit, ob und in welchem Ausmass diese erste Welle negative Auswirkungen auf das psychische Wohlergehen der Menschen hatte, die selbst nicht unter der Krankheit oder wirtschaftlichen Einbrüchen litten. Ich beobachte vor allem auch positive Effekte, gerade im gestärkten Gemeinsinn. Aus der sozialpsychologischen Gruppenforschung wissen wir, dass Druck von aussen nach innen einigend wirkt. Das konnten wir in der Schweiz gut beobachten. Als Gesellschaft haben wir die Erfahrung gemacht, dass wir resilient sind und gemeinsam Probleme lösen können. Das könnte uns helfen, wie wir mit anderen existenziellen Krisen wie zum Beispiel der Klimaveränderung umgehen. Auch diese Probleme sollten möglichst auf einer ernsthaften, wissenschaftlich basierten Diskussion ohne politische Verunglimpfungen gelöst werden.


Du blickst also positiv in die Zukunft? 

Die Coronapandemie hat kein neues menschliches Verhalten geschaffen. Aber sie hat teilweise verloren geglaubte Qualitäten herausgeschält. Wir können als Menschen stark sein und Widrigkeiten aushalten. Wir können uns als Gemeinschaft und auch individuell zusammenraufen. In unserer Konsumgesellschaft und dem verbreiteten Hedonismus waren sich viele dessen gar nicht mehr bewusst. Das stimmt mich positiv.


Christian, vielen Dank für das interessante Gespräch!

 

Porträt:

Prof. Dr. Christian Fichter, 49, ist Sozial- und Wirtschaftspsychologe und Forschungsleiter der Kalaidos Fachhochschule. Er befasst sich mit den psychologischen Grundlagen wirtschaftlichen und sozialen Verhaltens. Seine inhaltlichen Schwerpunkte sind Konsum, Mobilität, Image, soziale Kognition und evolutionäre Grundlagen wirtschaftlichen Verhaltens. Er berät Unternehmen, Organisationen und Personen in wirtschaftspsychologischen Fragen und schreibt regelmässig Meinungsartikel im Tages-Anzeiger. christian.fichter@kalaidos-fh.ch