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Fachartikel - Dezember 2020

Einschätzung des Ausführungsrisikos angedrohter Gewalt

Prof. Dr. Jérôme Endrass und PD Dr. Astrid Rossegger erläutern in diesem Fachartikel anhand konkreter Heuristiken, wann eine Drohung als gefährlich einzuschätzen ist und der Beizug der Polizei unmittelbar zwingend erforderlich ist.

Begriffliche Einordnung

Gewaltdrohungen, die das Opfer in Angst und Schrecken versetzen, sind für sich genommen schon ein Straftatbestand. Es handelt sich dabei aber nicht um ein Offizialdelikt, also eine Straftat, die von Amtes wegen verfolgt werden muss, sondern um ein Antragsdelikt. Die bzw. der Betroffene muss bei der Polizei einen Strafantrag stellen und existenzielle Ängste geltend machen. Aus forensischer Sicht ist aber nicht «nur» dieser Straftatbestand der Drohung relevant, sondern auch der Umstand, dass eine weitere Straftat angekündigt wird. Dass nicht jede Form der Drohung in Gewalt umschlägt, liegt auf der Hand: Etwas anzukündigen ist ungleich leichter als die Ankündigung auch umzusetzen. Eine Banalität, die in vielen Bereichen der Psychologie Gültigkeit hat und im Kontext von Neujahrsvorsätzen jedes Jahr aufs Neue persifliert wird. Die Frage, die sich somit stellt, ist nicht die, ob jede Drohung Gewalt nach sich zieht, sondern vielmehr, wie häufig das der Fall ist und wann eine Drohung gefährlich ist und in Gewalt mündet.

Epidemiologische Betrachtung

Ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik gibt einen Eindruck über die Grössenverhältnisse in der Schweiz [1]: 2018 wurden in der Schweiz 13'000 Fälle von angedrohter Gewalt zur Anzeige gebracht. In ca. 60'000 Fällen richtete sich das Delikt gegen die Freiheit und zog keine physische Gewalt nach sich. Zudem wurden ca. 30'000 Fälle von Gewalt- und Sexualstraftaten polizeilich registriert – nur einem Teil dieser Gewalthandlungen sind Drohungen voraus gegangen.

Bei diesen Zahlen handelt sich eine Prävalenz, die auf dem sogenannten Hellfeld basiert, d.h. auf Straftaten, die den Strafverfolgungsorganen zur Kenntnis gebracht wurden. Das Hellfeld ist eine sehr konservative Schätzung der Prävalenz von Gewalt, da ein relevanter Anteil von Delikten nicht zur Anzeige gebracht wird. Dies gilt insbesondere für Antragsdelikte, deren Verfolgung eine gewisse Hartnäckigkeit der Opfer voraussetzen. Unsichere, depressive oder sonst benachteiligte Personen - wie z.B. Frauen mit einem Migrationshintergrund - werden sich wohl weniger häufig den Strafverfolgungsbehörden anvertrauen als gesunde und sozial gut integrierte Personen.

Demgegenüber erlauben Untersuchungen, die eine repräsentative Stichprobe der Allgemeinbevölkerung nach Opfererfahrungen befragen, eine Ausleuchtung des sogenannten Dunkelfelds, d.h. jene Straftaten, die nicht behördlich bekannt geworden sind. Dunkelfeldforschungen aus der Schweiz weisen darauf hin, dass mehr als jede hundertste Person (1.5%), die in einer Partnerschaft lebt, in den letzten 12 Monaten eine Gewaltandrohung erlebte und mehr als vier von Hundert (4.3%) Opfer von Stalking wurden [2].

Eine Dunkelfelduntersuchung [3] von über 3’750 Schülerinnen und Schülern zeigte, dass 12% in den letzten 30 Tagen bedroht wurden. Von den Bedrohten gab jedoch nur jeder fünfte (23%) an, die Drohung ernst genommen zu haben. Auf etwa jede zehnte Drohung (9%) folgte physische Gewalt. Das grobe Verhältnis von 1:10 – auf zehn Drohungen folgt eine Gewaltanwendung - konnte in einer Schweizer Opferbefragungsstudie approximativ plausibilisiert werden. So zeigten die Autoren, dass auf 139 Drohungen 18 Fälle von leichter und 3 Fälle von schwerer Gewalt folgten [4].

Epidemiologische Untersuchungen zeigen somit, dass Drohungen häufig vorkommen. In bestimmten Populationen, wie z.B. bei Schüler und Schülerinnen, ist die Prävalenz gegenüber der Allgemeinbevölkerung mindestens um das Zehnfache erhöht. Weiter zeigen die Untersuchungen, dass auf 10 ernsthafte Drohungen, ca. 1 Gewalthandlung folgt. Als ernsthaft gilt dabei eine Drohung, die konkret (z.B. «ich bringe Dich um») und nicht nur angedeutet ist (z.B. «Du wirst sehen, was passiert»), und die so plausibel ist, dass sie dazu geeignet ist, einen Adressaten in Angst und Schrecken zu versetzen.

Heuristiken zur Risikoeinschätzung

Bei der Annahme eines 10:1 Verhältnisses von Drohungen und Gewalt handelt es sich um eine grobe Approximation, die zum Ausdruck bringen soll, dass das Verhältnis nicht 1:100 oder 1:1 ist. Die Verwendung von groben Schätzungen im Sinne einer statistischen Chance (also X:(X+1) Verhältnisse) hat sich in der Prognoseforschung sehr bewährt [5].

Eine solche Schätzung dient als Ausgangspunkt, wenn es darum geht das Risiko der Ausführung der Drohung einzuschätzen. Da auf 9 ungefährliche Drohende 1 gefährliche Person zu liegen kommt, macht deutlich, dass neben dem Problemverhalten des Drohens weitere Risikofaktoren in deutlicher Ausprägung vorliegen müssen, damit die Handlungsschwelle zur Gewalt überschritten wird [6].

Dabei ist eine weitere Daumenregel – oder auch Heuristik – hilfreich: Das Risiko steigt merklich an, wenn die Risikofaktoren nicht nur einem thematischen Komplex zuzuordnen sind. Handelt es sich bei der drohenden Person um jemanden, der wegen Gewaltdelikten vorbestraft ist und kürzlich wegen einer psychotischen Exazerbation hospitalisiert werden musste, ist das Risiko deutlich höher, als wenn es sich bei der drohenden Person um jemanden handelt, der neben der Gewaltvorstrafe mit Einbrüchen deliktisch in Erscheinung getreten ist.

Eine weitere Heuristik besagt: Handelt es sich bei den Risikomerkmalen um Persönlichkeitseigenschaften bzw. um Eigenschaften, die chronifiziert sind, ist das Risiko der Ausführungsgefahr in der Regel als höher einzustufen, als wenn es sich um episodisch begrenzte Auffälligkeiten handelt. Grundsätzlich gilt, dass der Fokus der Risikoanalyse auf das typische Reaktionsmuster einer Person und weniger auf einen Ausnahmezustand gelegt werden sollte. Reagierte ein Mann im Alter von 58 Jahren einmalig mit aggressivem Jähzorn, so ist dies ganz anders zu bewerten, als wenn ein Jugendlicher mehrfach pro Monat mit heftigen Jähzorn-Spitzen das soziale Umfeld verängstigt.

Als nächstes ist das aktuelle Handeln zu beurteilen: Gibt es Hinweise auf konkrete Vorbereitungshandlungen? Hat sich der Drohende auf bestimmte Personen «eingeschossen»? Die Heuristik besagt, dass die Gewaltbereitschaft in der Regel als höher zu bewerten ist, wenn ein spezifisches Täter-Opfer-Verhältnis vorliegt, die drohende Person ein Annäherungsverhalten (z.B. Stalking) zeigte oder gar Vorbereitungshandlungen (z.B. Kauf einer Waffe) bekannt sind.

Schliesslich ist der Kontext zu berücksichtigen: Gibt es Hinweise dafür, dass der aktuelle Konflikt existenziell bedrohlich für den Drohenden ist? Hat der Drohende ein soziales Umfeld, das ihn regelmässig wieder beruhigen kann?

Schlussfolgerungen

Die genannten Heuristiken erlauben eine grobe Orientierung bei der Einschätzung des Ausführungsrisikos von Drohungen. Damit diese richtig eingesetzt werden, ist es wichtig, sich an der 1:10 Schätzung zu orientieren. Das heisst, dass ohne Vorliegen von weiteren Risiken, eine isolierte Drohung in der Regel als ungefährlich eingestuft werden kann. Liegt hingegen eine Kombination von Risiken vor, wie z.B. eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, eine Vorstrafe wegen eines Gewaltdelikts und eine aktuelle Zuspitzung eines schwelenden Konflikts, ist das Risiko für das Überschreiten der Handlungsschwelle zur Gewalt als hoch einzustufen. «Hohes Risiko» bedeutet in diesem Kontext, dass der unmittelbare Beizug der Polizei zwingend erforderlich ist.

Aus Sicht eines umfassenden Bedrohungsmanagements ist es allerdings sinnvoll, die Polizei auch bei jenen Drohungen zu kontaktieren, von denen prima Vista kein hohes Ausführungsrisiko angenommen werden muss. Nur so lässt sich über die Zeit ein umfassendes Bild von der drohenden Person generieren.

Über die Autor(inn)en:

Prof. Dr. Jérôme Endrass ist Fachpsychologe für Rechtspsychologie FSP und eidgenössisch anerkannter Psychotherapeut. PD Dr. Astrid Rossegger ist Fachpsychologin für Rechtspsychologie FSP. Beide leiten zusammen Forschung & Entwicklung im Zürcher Amt Justizvollzug und Wiedereingliederung sowie die Arbeitsgruppe Forensische Psychologie an der Universität Konstanz.

Jérôme Endrass

Astrid Rossegger