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Fachartikel - März 2021

Autismus-Spektrum-Störungen: Aufgabenfelder und Perspektiven der Psychologie und Psychotherapie in der Schweiz

Der nachfolgende Fachartikel von Prof. Dr. Andreas Eckert umfasst eine kurze Einführung in das Thema der Autismus-Spektrum-Störungen und fokussiert auf mögliche Aufgabenfelder für Psycholog(inn)en im aktuellen Kontext der Schweiz. In der stärkeren Einbeziehung dieser Berufsgruppe sieht der Autor zahlreiche Chancen.

Einleitung

Die Lebenssituation und die fachliche Begleitung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit einer Autismus-Spektrum-Störung haben in der Schweiz in den letzten zehn Jahren eine besondere Aufmerksamkeit erhalten. Mit der Publikation des Berichtes „Autismus-Spektrum-Störungen. Massnahmen für die Verbesserung der Diagnostik, Behandlung und Begleitung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen in der Schweiz“ durch den Bundesrat im Herbst 2018 hat eine neue Etappe der Weiterentwicklung autismusspezifischer Unterstützungsangebote begonnen. Basierend auf einer wissenschaftlichen Situationsanalyse fokussiert dieser Bericht auf aktuelle Handlungsbedarfe und Empfehlungen für die zukünftige Gestaltung fachlicher Hilfen für Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung und ihre Angehörigen. Nach einer kurzen Einführung in die Charakteristika der Autismus-Spektrum-Störung, die Besonderheiten des Denkens und Wahrnehmens der Personengruppe und den aktuellen wissenschaftlichen Stand zu evidenzbasierten Interventionen werden Aufgabenfelder betrachtet, in denen der Berufsgruppe der Psycholog(inn)en ein Bedeutungsgewinn und ein möglicher Verantwortungszuwachs in der Schweiz zugesprochen werden kann.

Diagnosestellung der Autismus-Spektrum-Störung

Der Begriff Autismus-Spektrum-Störung (ASS) beschreibt eine komplexe neurologische Entwicklungsstörung mit einem breiten Spektrum an Ausprägungen und Erscheinungsformen. In den Diagnosekatalogen DSM-5 (2013) sowie ICD-11 (2019) werden die bislang gebräuchlichen Diagnosen des Frühkindlichen Autismus, des Asperger-Syndroms und des Atypischen Autismus zur Autismus-Spektrum-Störung zusammengeführt. Als zentrale diagnostische Kriterien werden in beiden Diagnosekatalogen die folgenden zwei Charakteristika benannt:

  • anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion über verschiedene Kontexte hinweg
  • eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten

Weder die kognitiven noch die sprachlichen Fähigkeiten der einzelnen Person haben einen direkten Einfluss auf die übergeordnete Diagnosestellung, was die Vielfalt an möglichen Erscheinungsformen erklärt. Die 2022 in Kraft tretende ICD-11 unternimmt zugleich mit der Einführung von Subdiagnosen anhand der Kriterien «funktionale Sprache» und «intellektuelle Entwicklung» den Versuch, Untergruppen zu bilden.

Gemäss der aktuellen Fachdiskussion ist allen Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung gemeinsam, dass sie in unterschiedlicher Intensität Besonderheiten im Wahrnehmen und Denken erleben. Diese lassen sich bezugnehmend auf neuropsychologische Erklärungsansätze folgendermassen skizzieren:

  1. Menschen mit ASS zeigen vielfach ausgeprägte sensorische Über- oder Unterempfindlichkeiten, die sich auf die Alltagsgestaltung und den Umgang mit Herausforderungen auswirken können. (Theoretischer Bezugsrahmen: Besondere Wahrnehmungsfunktionen)
  2. Menschen mit ASS fällt es häufig schwer, die Perspektive anderer Personen einzunehmen, deren Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen zu erkennen, zu erklären oder vorherzusagen. (Theoretischer Bezugsrahmen: Theory of Mind)
  3. Menschen mit ASS zeigen vielfach Schwierigkeiten in der Planung, Initiierung und Koordination von Handlungsabläufen, der Steuerung von Aufmerksamkeit und dem flexiblen Reagieren. (Theoretischer Bezugsrahmen: Exekutive Funktionen)
  4. Menschen mit ASS nehmen besonders detailfokussiert wahr und können auf Einzelheiten fixiert sein. Details in einen sinngebundenen Kontext zu integrieren, fällt demgegenüber häufig schwer. (Theoretischer Bezugsrahmen: Schwache zentrale Kohärenz)

Evidenzbasierte und weitere Interventionen

Im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs liegen autismusspezifische Leitlinien wie die NICE (2013) und SIGN (2016) Guidelines vor, die sich insbesondere den Interventionen im Kindes- und Jugendalter widmen. Im deutschsprachigen Raum ist die Publikation der AWMF-S3-Leitlinie Therapie noch für dieses Jahr vorgesehen. Auf diesen Erkenntnissen basierend benennen Freitag et al. (2017) in ihrem Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie bei Autismus-Spektrum-Störungen für verschiedene Teilgruppen der ASS unterschiedliche Behandlungsansätze als zentral. Für Kinder im Vorschulalter mit ausgeprägten Entwicklungsauffälligkeiten gelten beispielsweise verhaltenstherapeutische, zumeist zeitintensive Massnahmen, wie die Applied Behaviour Analysis (ABA) oder das Early Start Denver Model, als vorrangige Behandlungsansätze. Für die Gruppe der Kinder und Jugendlichen ohne eine kognitive Beeinträchtigung stehen demgegenüber Trainingsangebote zur Förderung sozialer Kompetenzen in der Gruppe, wie im Zürcher KOMPASS-Programm (Jenny et al., 2021), im Vordergrund. Die Unterstützung mit Visualisierungs- und Strukturierungshilfen, z.B. nach dem TEACCH-Ansatz, wird für alle Altersgruppen als hoch relevant bezeichnet. Ein weiteres evidenzbasiertes Angebot stellen schliesslich psychoedukative Elterntrainingsprogramme dar.

Auf der Ebene psychotherapeutischer Angebote im Einzelsetting liegen gegenwärtig wenig manualisierte und zugleich evidenzüberprüfte Programme vor. Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie erhalten in der Psychotherapie aktuell am meisten Berücksichtigung. 2019 ist ein ausführliches Manual zur kognitiven Verhaltenstherapie bei Erwachsenen mit ASS erschienen (Dziobek & Stoll, 2019), zur Schematherapie bei Kindern und Jugendlichen mit ASS liegt ebenfalls eine erste deutschsprachige Publikation vor (Lechmann, 2015).

Weitere therapeutische und pädagogische Angebote, denen zum einen ein autismusspezifischer Evidenznachweis fehlt, die zum anderen jedoch die Praxis in der Schweiz massgeblich bestimmen, sind die Angebote der Heilpädagogik, Logopädie, Ergotherapie und Psychomotoriktherapie. Ihre Autismusspezifität wird stark von den Voraussetzungen im Einzelfall abhängen.

Autismusspezifische Aufgabenfelder für Psycholog(inn)en – Situation und Perspektiven

Mit dem Hintergrund dieser skizzierten Erkenntnisse, erweitert um den Blick auf professionsspezifische Kompetenzen, werden im Folgenden Aufgabenfelder betrachtet, in denen die Berufsgruppe der Psycholog(inn)en in der Schweiz bereits aktuell eine wichtige Rolle spielt oder diese meines Erachtens in der Zukunft verstärkt einnehmen könnte. 

1)    Diagnostik

Der aktuelle Goldstandard der Autismus-Diagnostik umfasst den Einsatz des ADOS-2 (Diagnostische Beobachtungsskala für autistische Störungen) und ADI-R (Diagnostisches Interview für Autismus - Revidiert). Die Anwendung dieser Instrumente bedarf einer spezifischen Schulung und erfolgt in der Regel in erfahrenen Fachstellen. Neben Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiater(innen) sind dabei bereits gegenwärtig zahlreiche Psycholog(inn)en im Einsatz. Da aktuell an vielen Fachstellen lange Wartezeiten für eine Diagnostik bestehen, ist in diesem Bereich weiterhin ein deutlicher Erweiterungsbedarf, sowohl an Fachstellen als auch an geschulten Fachpersonen, gegeben.

2)    Frühtherapie

Im Bereich der Frühtherapie, insbesondere der intensiven verhaltenstherapeutischen Angebote für Kinder mit ASS, ist die Berufsgruppe der Psycholog(inn)en traditionell sehr stark vertreten und konzeptionell fest verankert. Ein quantitativer Ausbau der Angebote stellt gemäss des Berichtes des Bundesrates auch in diesem Bereich ein wichtiges Anliegen für die Zukunft dar.

3)    Schulpsychologie

Im schulischen Kontext nehmen die Schulpsycholog(inn)en eine zentrale Rolle hinsichtlich der Ausgestaltung der Bereiche Diagnostik, individuelle Förderangebote sowie der Beratung von schulischen Fachpersonen und Eltern ein. Ein fundiertes autismusspezifisches Fachwissen ermöglicht es in diesem Rahmen, im Einzelfall kompetent zu beraten und adäquate Entscheidungen zu treffen.

4)    Training sozialer Kompetenzen in der Gruppe 

Die aktuell vorliegenden autismusspezifischen Gruppenangebote (Überblick in Eckert & Volkart, 2017) basieren weitgehend auf psychotherapeutischen Prinzipien und Methoden. Sie werden zum einen an den Orten ihrer Konzipierung angeboten, z.B. an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, zum anderen bieten sie mit ihrer sehr konkreten, manualisierten Darreichungsform die Grundlage für den Transfer in andere institutionelle Kontexte. Aufgrund der gegenwärtigen sehr grossen Lücke zwischen Angebot und Nachfrage wären Initiativen zur Bereitstellung von Sozialtrainingsgruppen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit ASS wünschenswert.

5)    Psychotherapie im Einzelsetting

Eine vergleichbare Situation lässt sich in der Schweiz aktuell für Psychotherapien im Einzelsetting für Schulkinder, Jugendliche und Erwachsene mit ASS beschreiben. Einer sehr hohen Nachfrage stehen aktuell nur vereinzelte Angebote einer Psychotherapie gegenüber, die sich auf autismusspezifische Programme bezieht oder deren Anbieter(innen) auf ein fundiertes Fachwissen zum Thema Autismus zugreifen können. Psychotherapeut(inn)en, die gezielt Therapie für Personen mit ASS anbieten, haben aktuell lange Wartelisten. Eine autismusspezifische Qualifizierung von Psychotherapeut(inn)en und die damit verbundene Erweiterung der Angebote würde meines Erachtens eine Verbesserung der Lebenssituation vieler Menschen mit ASS und ihrer Angehörigen ermöglichen.

6)    Beratung und Psychoedukation der Eltern

Die Bedürfnisse, Ressourcen und Kompetenzen der Eltern in den Vordergrund zu stellen, stellt eine weitere Aufgabe dar, für die die Berufsgruppe der Psycholog(inn)en sehr gute Voraussetzungen mitbringt. In der Form von Elternberatungen mit dem Hintergrund eines vorhandenen Autismusfachwissens oder anhand der Bereitstellung von Kursen der autismusspezifischen Elternbildung und Psychoedukation, kann ein wertvoller Beitrag zum Kompetenzerwerb und zur Entlastung im familiären Kontext geleistet werden.

Fazit

Die Berufsgruppe der Psycholog(inn)en ist in der internationalen Fachdiskussion zum Thema der Förderung und Begleitung von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung fest verankert. In der aktuellen Situation in der Schweiz findet sich dies in zahlreichen Arbeitsfeldern wieder. Gleichzeitig lassen sich vielfältige Perspektiven einer verstärkten Einbeziehung der berufsspezifischen Kompetenzen aufzeigen. Diesen im Sinne der vorangehend beschriebenen Anregungen nach zu gehen, würde der Zielsetzung des Berichtes des Bundesrates folgen, die Lebenssituation von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung kontinuierlich zu verbessern.

 

 

Über den Autor:

Prof. Dr. Andreas Eckert ist Professor für Kommunikation und Partizipation bei Autismus-Spektrum-Störungen am Institut für Sprache und Kommunikation unter erschwerten Bedingungen (ISK) der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. Prof. Dr. Andreas Eckert ist gemeinsam mit dem Psychologen Matthias Huber Fachreferent an der VSKZ-Fortbildung im 2021 zu Autismus-Spektrum-Störungen im Schullalltag. 

www.hfh.ch/fachstelle-autismus
andreas.eckert@hfh.ch 
 

Literatur

Dziobek, I & Stoll, S. (2019). Hochfunktionaler Autismus bei Erwachsenen. Ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Manual. Stuttgart: Kohlhammer.

Eckert, A. & Volkart, F. (2016). Sozialtraining in der Gruppe für Kinder und Jugendliche mit einem Asperger-Syndrom oder Hochfunktionalen Autismus – Literaturanalyse und Praxisreflexion. Zeitschrift für Heilpädagogik, 8, 367-380.

Freitag, C.M., Kitzerow, J., Medda, J., Soll, S. & Cholemkery, H. (2017). Autismus-Spektrum-Störungen. Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie. Göttingen: Hogrefe.

Jenny, B, Goetschel, P., Isenschmid, M. & Steinhausen, H.C. (2021). KOMPASS - Zürcher Kompetenztraining für Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen. Ein Praxishandbuch für Gruppen- und Einzelinterventionen. Stuttgart: Kohlhammer.

Lechmann, C. (2015). Schematherapie bei Autismus-Spektrum-Störungen. In: C. Loose, P. Graaf & G. Zarbock (Hrsg.): Störungsspezifische Schematherapie mit Kindern und Jugendlichen. Weinheim: Beltz, S.235-256