ZÜPP

Fachartikel - Dezember 2021

ICD-11 – Wichtigste Neuerungen und ein Überblick zu den spezifisch belastungsbezogenen psychischen Störungen

Die 11. Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD, engl. International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), wird am 01.01.2022 global eingeführt. Dieser Fachartikel von PD Dr. Myriam V. Thoma fasst die wichtigsten Neuerungen der ICD-11 mit Fokus auf die spezifisch belastungsbezogenen psychischen Störungen zusammen, welche sie an der ZüPP-Fortbildung vom 9. November 2021 präsentiert hat.

Wichtigste technische und strukturelle Neuerungen

Die ICD-11 wird nicht mehr in der bekannten Buchform publiziert, sondern als ein webbasiertes Codier-Werkzeug (Jakob, 2018). Auf der folgenden Seite ist die aktuellste Browser Version zugänglich: https://icd.who.int/browse11/l-m/en. Das Kapitel, welches die psychischen Störungen beinhaltet, ist das Kapitel 06 (engl. Mental, behavioural or neurodevelopmental disorders). Die neuen ICD-11 Codierungen der psychischen Störungen fangen somit mit der Nummer «6» an (z. B. für soziale Phobien: ICD-11 Code = 6B04).

Weitere wichtige Kapitel für die Erfassung von psychischen Störungsbildern sind die Kapitel 21 und 24 (Sievers, 2021). Kapitel 21 beinhaltet Symptome, Zeichen oder klinische Befunde, die man nicht anderswo klassifizieren kann (sogenannte „M-Codes“), welche jedoch von klinischer Relevanz sein können, wie zum Beispiel ‚Perfektionismus‘ (MB28.C) oder ‚überwertige Ideen‘ (MB26.6). Kapitel 24 beinhaltet Faktoren, welche den Gesundheitsstatus beeinflussen können, wie ‚Armut‘ (QD50) oder ‚fehlende körperliche Bewegung‘ (QE20). 

Spezifische Aspekte von Störungen und Krankheiten können mit der ICD-11 differenzierter als bis anhin verschlüsselt werden (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, 2021). So können beispielsweise die (bzw. der Stammcode von den) sozialen Phobien mit einer sogenannten Postkoordination ‘Panik Attacke’ (MB23.H) zur Spezifizierung der Diagnose ergänzt werden, welches dann eine Codekette bildet (6B04/MB23.H). Zusätzlich ist es möglich, optionale Ergänzungscodes (engl. extension codes; „X-Codes“) durch ein „&“ mit einem einzelnen Stammcode oder einer Codekette zu kombinieren (Sievers, 2021). Dies erlaubt es, die Diagnose mit zusätzlichen Details zu ergänzten, wie beispielsweise dem Schweregrad einer positiven Symptomatik bei einer Schizophrenie (6A20/6A25.0&XS0T).

Bedeutsame inhaltliche Änderungen – eine Übersicht

Folgende inhaltlichen Änderungen sind speziell zu erwähnen:

  • Eine bedeutsame inhaltliche Änderung ist der Lebensspannenansatz der ICD-11. So sind in der ICD-11 die Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend nicht mehr in einem separaten Kapitel untergebracht, sondern in den jeweiligen «Erwachsenenkapiteln» verschlüsselt. Beispielsweise ist die ‘Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters’ neu im Kapitel ‘Spezifisch belastungsbezogene psychische Störungen’. 
  • Burnout wird als Berufsphänomen (QD85) und nicht als ein medizinischer Zustand verschlüsselt (WHO, 2018). 
  • Die «Störungen der Geschlechtsidentität» und die «Schlafstörungen» sind nicht mehr bei den psychischen Störungen angesiedelt, sondern in den separaten neuen Kapiteln 17 «Bedingungen im Zusammenhang mit der sexuellen Gesundheit» und 7 «Schlaf-Wach-Störungen». 
  • Bei den Persönlichkeitsstörungen (PS) ist es zu einer grundlegenden Änderung gekommen: hier wird auf die Unterteilung in zehn PS verzichtet. Man kann neu eine generelle PS diagnostizieren (6D10) und angeben, wie ausgeprägt deren Schweregrad ist (leicht, mittelgradig, schwer). Mit dieser Änderung wollte man sich einer dimensionalen Klassifizierung annähern. Zusätzlich kann durch eine Postkoordination spezifiziert werden, wie sich die Persönlichkeitszüge oder -muster manifestieren (z. B. negativistisch, zwanghaft). 
  • Zusätzlich haben es einige neue Diagnosen in die ICD-11 geschafft, wie beispielswiese die Körperdysmorphe Störung, die Hoarding  Störung oder die Binge Eating Störung (Gaebel, Stricker und Kerst, 2020).

Spezifisch belastungsbezogene psychische Störungen

Einige Änderungen gibt es im neu geschaffenen Kapitel zu den spezifisch belastungsbezogenen psychischen Störungen (Augsburger und Maercker, 2018):

  • Die ‘Akute Belastungsreaktion’ ist in der ICD-11 nicht mehr enthalten; man kann jedoch im Kapitel 24 eine ‘akute Stressreaktion‘ (QE84) verschlüsseln. 
  • Die ‚Anpassungsstörung‘ (6B43) wurde überarbeitet und neu konzipiert. Dieses Störungsbild soll nun nicht mehr wie bis anhin eher eine „Restkategorie“ sein, sondern hat nun klar formulierte Kriterien (Augsburger und Maercker, 2018). 
  • Die ‚Anhaltende Trauerstörung‘ (6B42) ist eine neue Diagnose, welche eine chronifizierte Trauerreaktion nach dem Tod einer nahestehenden Person (vor mindestens 6 Monaten) verschlüsseln kann. 
  • Bei der ‚Posttraumatischen Belastungsstörung‘ (PTBS, 6B40) hat sich u.a. das Traumakriterium verändert; neu wird in der ICD-11 auf die subjektive Komponente des Traumakriteriums („… die nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde“) verzichtet und lediglich die objektive Komponente belassen („Ereignis oder Serie von Ereignissen von aussergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmass“). 
  • Eine neue Diagnose ist die ‚Komplexe PTBS‘. Damit diese Diagnose gestellt werden kann, müssen (neben der Erfüllung des Traumakriteriums) die PTBS-Kriterien erfüllt sein (d.h. Wiedererleben, Vermeidung, anhaltende Bedrohungswahrnehmung), sowie Symptome aus drei weiteren Bereichen (Schwierigkeiten in der Regulierung von Emotionen, überdauerndes negatives Konzept des Selbst, Beziehungsschwierigkeiten). Die Komplexe PTBS präsentiert sich klinisch als ein heterogenes Störungsbild, welches gemäss neuster Untersuchungen keine Alters- und Geschlechtsunterschiede aufzeigt (Maercker et al., 2018) und sich von einer Persönlichkeitsstörung mit Borderline Muster (welche sich klinisch ähnlich präsentieren kann) als separates Störungsbild sinnvoll abgrenzen lässt (Maercker, 2021). 

Fazit

Die ICD-11 wird offiziell am 01.01.2022 eingeführt. Wann die ICD-11 in der Schweiz verbindlich sein wird, ist u.a. abhängig von der Verfügbarkeit einer offiziellen deutschen Übersetzung, welche es noch nicht gibt. Momentan (November 2021) sind etwa 65% der über 135'000 Einträge auf Deutsch übersetzt. Schätzungsweise wird es noch zwei bis drei Jahre dauern, während denen noch mit der aktuellen ICD-10 abgerechnet wird.

 

 

Über die Autorin:

PD Dr. phil. Myriam V. Thoma ist Oberassistentin und Arbeitsgruppenleiterin der Abteilung ‘Psychopathologie und Klinische Intervention’ am Psychologischen Institut der Universität Zürich (www.psychologie.uzh.ch/psypath/). 
 

Referenzen

Augsburger, M., & Maercker, A. (2018). Spezifisch belastungsbezogene psychische Störungen im neuen ICD-11: Ein Überblick. Fortschritte der Neurologie· Psychiatrie, 86(03), 156-162. https://doi.org/10.1055/a-0576-6790

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (2021). ICD-11 – 11. Revision der ICD der WHO. https://www.dimdi.de/dynamic/de/klassifikationen/icd/icd-11/

Gaebel, W., Stricker, J., & Kerst, A. (2020). Changes from ICD-10 to ICD-11 and future directions in psychiatric classification. Dialogues in clinical neuroscience, 22(1), 7. https://doi.org/10.31887/DCNS.2020.22.1/wgaebel

Jakob, R. (2018). ICD-11–Anpassung der ICD an das 21. Jahrhundert. Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz, 61(7), 771-777. https://doi.org/10.1007/s00103-018-2755-6

Maercker, A. (2021). Development of the new CPTSD diagnosis for ICD-11. Borderline Personality Disorder and Emotion Dysregulation, 8(1), 1-4. https://doi.org/10.1186/s40479-021-00148-8

Maercker, A., Hecker, T., Augsburger, M., & Kliem, S. (2018). ICD-11 prevalence rates of posttraumatic stress disorder and complex posttraumatic stress disorder in a German nationwide sample. The Journal of nervous and mental disease, 206(4), 270-276. https://doi.org/10.1097/NMD.0000000000000790

Sievers, C. (2021). ICD-11: Mehr als nur ein Update. BARMER. https://doi.org/10.30433/ePSTRA.2021.004

World Health Organization (2018). ICD-11 for mortality and morbidity statistics (2018).