ZÜPP

ZüPP-Fortbildung - September 2020

ADHS im Erwachsenenalter

Ist die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) eine Modediagnose? Gemäss Prof. Dr. Rolf-Dieter Stieglitz muss das klar verneint werden: Es werden mehr Fälle diagnostiziert, weil wir heute das Hintergrundwissen haben, um ADHS zu erkennen. Zudem ging man lange Zeit davon aus, dass nur Kinder betroffen sind.

Prof. Dr. Rolf-Dieter Stieglitz in der Linde Oberstrass

An der ZüPP-Fortbildung am 8. September 2020 nahmen mehr als 80 Personen teil, mit Masken gemäss dem ZüPP-Schutzkonzept. Die Anwesenden folgten gebannt dem Fachreferat von Prof. Dr. Rolf-Dieter Stieglitz, der mit seiner grossen Erfahrung beeindruckte. Bis zu seiner Emeritierung hatte er eine Doppelprofessur für Klinische Psychologie und Psychiatrie an der Universität Basel inne und leitete dort über viele Jahre die ADHS-Sprechstunde.

Nach der ICD-10-Klassifikation manifestiert sich eine ADHS immer mit Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Die Diagnose bei Erwachsenen ist zeitaufwändig, da neben dem Einsatz von standardisierten Screeninginstrumenten zur Erfassung der aktuellen Symptomatik auch die Erfassung von Komorbiditäten sowie eine komplette Anamnese über das bisherige Leben notwendig sind. Stieglitz orientiert sich dabei an einem diagnostischen Algorithmus, der mehrere Datenebenen und -quellen aus der Vergangenheit und Gegenwart einbezieht. Besonders wichtig bei der Anamnese sind dabei Abklärungen zu früheren Verhaltenssauffälligkeiten oder Schulproblemen, weiteren Betroffenen in der Familie und anderen  typischen Auffälligkeiten wie zahlreiche Stellenwechsel, eine Häufung von Unfällen oder Verkehrsverstössen. Das von Stieglitz mitentwickelte Testverfahren HASE (Homburger ADHS-Skalen für Erwachsene) hilft bei der klinischen Diagnose. Da gemäss Studien rund 80% der ADHS genetisch bedingt ist und durch eine Störung des Neurotransmitterstoffwechsels verursacht wird, ist die familiäre Abklärung wichtig. Mit viel Humor und Empathie schilderte Stieglitz das Beispiel einer Familie, in der neben den Eltern auch bei den drei Kindern ADHS diagnostiziert wurde.

Eine Diagnose allein benötigt jedoch noch keine Behandlung. Diese ist erst notwendig, wenn ausgeprägte Symptome in mindestens einem Lebensbereich auftreten oder komorbide Störungen - häufig Depressionen - vorliegen. Stieglitz betonte, wie wichtig die kombinierte medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung ist, da die Medikamente eine breite Streuung von 25 bis 80 Prozent in ihrer Responserate aufweisen. Beeinträchtigungen bei der Arbeit, in Beziehungen und im Selbstwertgefühl bleiben bestehen. Neben der notwendigen Psychotherapie ist zudem Psychoedukation der Patient(inn)en ein unterstützendes Element.

Bei vielen Erwachsenen nehmen mit zunehmendem Alter die Impulsivität und Hyperaktivität ab, die Unaufmerksamkeit bleibt jedoch hoch. Die Betroffenen haben Strategien entwickelt, um gegen aussen ruhig zu wirken, obschon ständig ein "innerer Motor läuft". Ein Patient von Stieglitz, der erst mit 65 Jahren medikamentös behandelt wurde, erlebte gemäss seinen Schilderungen endlich ein entspanntes Wochenende ohne innere Unruhe.

Einen erheiternden Schlusspunkt setzt Stieglitz mit der Geschichte zur erstmaligen Synthetisierung von Methylphenidat 1944 durch den Chemiker Dr. Leandro Pannizzon, der damit seiner Frau Marguerite (Rita) zu einer grösseren Leistungsfähigkeit auf dem Tennisplatz verhalf und danach das Medikament "Ritalin" taufte.

Nach zahlreichen Fragen der anwesenden Psycholog(inn)en aus der eigenen Berufspraxis und weiteren Vertiefungen von Stieglitz zu Diagnose und Behandlung von ADHS bei Erwachsenen, lud der ZüPP wie gewohnt zum geselligen Apéro ein.

Präsentationsfolien von Prof. Dr. Rolf-Dieter Stieglitz im ZüPP-Mitgliederbereich

Literaturhinweis: HASE, Homburger ADHS-Skalen für Erwachsene, 2. Auflage, 2020 (erscheint demnächst), Hogrefe-Verlag