ZÜPP

ZüPP-Fortbildung - Januar 2023

Psychologie ohne Grenzen – ein Feldbericht aus dem Irak 

Unser Vorstandsmitglied Dr. phil. Gianandrea Pallich war 2022 für sechs Monate in einem Einsatz für Médecins Sans Frontières (MSF) in Sinjar, einer Region im Irak, die 2014 vom Islamischen Staat (IS) angegriffen wurde. Am 25. Januar 2023 berichtete er in der ZüPP-Fortbildung in der Linde Oberstrass von seinen Erfahrungen. An der Veranstaltung nahmen rund 180 Personen teil, davon 100 vor Ort und 80 via Zoom. Dank der zahlreichen Gäste nahmen wir rund 700 Franken ein, die wir an MSF spendete.

Im folgenden Beitrag fasst Gianandrea Pallich sein Referat zusammen:
"Ich erinnere mich daran, wie ich als Kind die Zeitschrift von «Ärzte ohne Grenzen» / «Médecins Sans Frontières» (MSF) durchblätterte und dachte: "Diese Ärzte retten Leben in den gefährlichsten Regionen der Welt; das sind Helden". Doch wenn es um eine Bewerbung bei einer internationalen NGO geht, ist die Fähigkeit, ein Held zu sein, nicht gefragt. Flexibilität, Führungsqualitäten und Teamfähigkeit sind viel wichtiger. Die Bereitschaft und der Wille, überall dorthin zu reisen, um zu helfen, wo hilfsbedürftige Menschen an die Krankenhaustür klopfen, sind die geforderten Eigenschaften. 

Wenige Tage nachdem ich in den internationalen Expertenpool von MSF aufgenommen wurde, kam die Nachricht: "Wir haben einen Einsatzvorschlag für Sie, im Irak." Mit zahllosen Fragen im Kopf war das erste, was ich nach Erhalt dieser E-Mail tat, mit Hilfe von Google zu recherchieren. Ich las über den Einmarsch, der 2003 von den USA initiiert und angeführt wurde, und darüber, wie fragil die Sicherheit seitdem ist. Ich las über Krieg, Bombardierungen und Schiessereien. Ich las über den Genozid an den Jesiden, der durch den selbsternannten Islamischen Staat im Irak und in Syrien (ISIS) 2014 ausgeübt wurde. Dieser machte zusammen mit der Einnahme von Mossul weltweit Schlagzeile. Was ich über den Irak und den Nahen Osten erfuhr, war faszinierend, traurig und beängstigend zugleich.

Als ich wenige Wochen später in Erbil, im Norden Iraks, unzählige Briefings erhalten hatte und in einen weissen MSF-Land Cruiser stieg, fühlte ich mich wie in einem weissen NASA-Space-Shuttle, der mich auf einen anderen Planeten bringt. Nach mehr als sechs Stunden Fahrt war der Berg Sinjar zu sehen und ich erreichte die Region, in der ich in den nächsten sechs Monaten arbeiten und leben würde. 

Als leitender Psychologe, sogenannter «Mental Health Activity Manager» (MHAM), durfte ich das lokale Team der Mental Health Abteilung leiten, weiterbilden und supervidieren sowie das Projekt weiterentwickeln. Vieles, was mir meine Ausbildung in der Schweiz mitgegeben hat, konnte ich gut anwenden, während ich meine Vorstellungen anpassen musste. Der Einsatz verlangte jeden Tag grosse mentale Flexibilität und psychische Resilienz.

Obwohl viel gearbeitet wurde und es auch schwierige Tage gab, bleiben mir vor allem die Erinnerungen an unzählige Momente, wo gemeinsam mit Freunden gegessen, musiziert und getanzt wurde sowie die eindrückliche Kultur, welche ich kennenlernen durfte. Dafür bin ich dankbar und habe rückblickend den Eindruck, dass mich diese Zeit beruflich, menschlich und persönlich weitergebracht hat, wie kaum eine andere Erfahrung."

Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF): MSF ist eine private Organisation mit internationaler Ausrichtung, die 1971 gegründet wurde. Sie besteht aus 26 Ländersektionen und dem internationalen Büro mit Sitz in Genf. Die unabhängige, humanitäre Hilfsorganisation leistet medizinische Nothilfe für Menschen, die von bewaffneten Konflikten, Epidemien, mangelhaften Gesundheitssystemen oder Natur-katastrophen betroffen sind - ohne Diskriminierung und ungeachtet derer ethnischen Herkunft respektive religiösen, philosophischen oder politischen Überzeugung.

Die Aktivitäten der MSF-Bewegung sind sehr vielfältig: Wiederaufbau und Inbetriebnahme von Krankenhäusern oder Gesundheitszentren, mobile Kliniken zur Versorgung von ländlichen Gebieten, Impfprogramme, medizinische Versorgung in Flüchtlingslagern, psychologische Betreuung, Aufbau von Ernährungszentren, Wasser- und Sanitärprojekte sowie Gesundheitsversorgung von besonders gefährdeten Gruppen. In allen Projekten arbeitet MSF mit nationalem Personal zusammen und legt Wert auf die Fort- und Weiterbildung der einheimischen Mitarbeitenden.

Die Organisation, die 1999 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, finanziert sich vorwiegend aus Spenden von Privatpersonen und sichert sich dadurch auch ihre Unabhängigkeit. 2021 stammten in der Schweiz 96 % der Mittel aus Privatspenden.

Zur Person
Dr. phil. Gianandrea Pallich ist eidgenössisch anerkannter Psychotherapeut, Mediator und Referent. Er arbeitet als selbstständiger Psychotherapeut und ist seit 2019 Vorstandsmitglied beim ZüPP sowie Mitglied der Ombudsstelle / Berufsethikkammer der Kommission der Verbandsgerichtsbarkeit der FSP.