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VSKZ-Fachartikel - Dezember 2023

Diagnostik der ADHS im Kontext der Schulpsychologie

Am 16. November 2023 nahmen rund 120 Mitglieder und Gäste an der VSKZ-Abendveranstaltung zu «Diagnostik der ADHS im Rahmen des Schulpsychologischen Dienstes – Möglichkeiten, Chancen und Grenzen» teil. Die Entwicklungspsychologin Dr. rer. nat. Juliane Ball fasst im nachfolgenden Fachartikel die wichtigsten Punkte ihres Referats zusammen.

Kinder, die sich nicht ausreichend konzentrieren können, die unruhig sind und häufig aufstehen, wenn eigentlich stillsitzen oder arbeiten gefragt ist, oder die impulsiv eigenen Gedanken und Handlungen nachgehen, fallen im schulischen Alltag schnell auf und stellen besondere Anforderungen an die Lehrpersonen. Diese Kinder benötigen häufig mehr Aufmerksamkeit, wiederholte Aufforderungen und Anleitungen, um ihre Leistungsfähigkeit zeigen zu können, ihr Verhalten zu steuern und sich in die Gleichaltrigengruppe zu integrieren.

Wenn gemeinsame Gespräche mit Kind und Familie und erste Interventionen durch die Lehrperson nicht zur gewünschten Veränderung führen, kann sich schnell die Frage stellen, ob das Kind allenfalls eine Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ADHS) aufweist. Neben Kinderärzten, Beratungsstellen, niedergelassenen kinder- und jugendpsychiatrischen Praxen und der Kinder- und Jugendpsychiatrie, stellen die schulpsychologischen Dienste eine Anlaufstelle für ratsuchende Familien und Lehrpersonen dar.

Die Schulpsychologie kann in diesem Zusammenhang Beratung und Triage übernehmen, eine erste differenzierte Einschätzung im Rahmen der schulpsychologischen Abklärung machen, aber auch gezielte schulische Interventionen setzen. Denn nicht immer steckt hinter den beschriebenen Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten eine Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ADHS). Die Kernsymptomatik der ADHS, zu der nach ICD-10 die Unaufmerksamkeit, die Hyperaktivität und die Impulsivität gehören, lässt sich auch als unspezifische Symptome anderer psychischer Störungen wie z. B. Depressionen, Angststörungen oder Psychosen sowie im Zusammenhang mit somatischen Erkrankungen finden.

 

Bestandteile einer sorgfältigen Diagnostik

Basierend auf den deutschen S3-Leitlinien zur Diagnostik der ADHS im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter (Banaschewski et al., 2018, aktuell in Revision) sollte die Diagnose ADHS durch einen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie oder Kinder- und Jugendmedizin mit entsprechender Erfahrung bzw. durch einen Fachpsychologen für Psychotherapie gestellt werden. Aber auch eine sorgfältige schulpsychologische Abklärung kann in eine Verdachtsdiagnose und zum Aufgleisen weiterer gezielter Diagnostik, oder bei erfahrenen Schulpsychologen in das Stellen einer gesicherten Diagnose münden. Was sind die zentralen Bestandteile einer sorgfältigen Diagnostik? Aufgrund der hohen Komorbiditäten bzw. der differentialdiagnostischen Erwägungen können halbstrukturierte klinische Interviews (z.B. DIPS, KIDDIE-SADS, MINI-KID), welche mit Eltern und/oder Kind durchgeführt werden, aber auch störungsübergreifende Verhalten wie die Child-Behavior Checklist (CBCL) oder der Youth Self Report (YSR) nützlich sein.

Bei einer ADHS treten bei 70-90% der Kinder eine oder mehrere komorbide Störungen auf (Banaschewski et al., 2018, aktuell in Revision). Zu den häufigsten Störungen zählen dabei die externalisierenden Störungen wie die Störung des Sozialverhaltens mit/ohne oppositionelle Anteile sowie die Ticstörungen und bei den internalisierenden Störungen die Angststörungen und die depressiven Störungen.

Zu den Standards der Diagnostik gehört eine ausführliche Exploration des Kindes/Jugendlichen, der Eltern sowie der Erzieher bzw. Lehrpersonen hinsichtlich der Kernsymptomatik, deren Häufigkeit und situationsübergreifenden Auftretens sowie der Beeinträchtigung des Funktionsniveaus und der Teilhabe. Der Leidensdruck kann sich nicht nur beim Kind, sondern auch in der Umgebung zeigen. Die Erhebung der aktuellen Symptome kann durch den gezielten Einsatz von beurteilerübergreifenden Fragebögen wie den CONNERS oder den DISYPS II (FBB/SBB-ADHS) unterstützt werden. Diese liegen sowohl für die Selbsteinschätzung ab 11 Jahren als auch für Eltern und Erzieher vor.

Auch Unterrichtsbeobachtungen können Aufschluss über die Symptomatik und die Beeinträchtigungen des Funktionsniveaus geben und stellen im Rahmen von schulpsychologischen Abklärungen eine wertvolle Ergänzung dar. Weiter gilt es eine Beurteilung der intellektuellen Leistungsfähigkeit vorzunehmen und eine mögliche Unter- oder Überforderung als Ursache der Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten auszuschliessen. Die Diagnose ADHS setzt eine dem Leistungsstand entsprechende Beschulung voraus. Auch Teilleistungsschwierigkeiten im Erwerbsprozess des Lesens, Schreibens und Rechnens und/oder in den Entwicklungsbereichen Motorik und Sprache sind als Ursache auszuschliessen bzw. in ihrer Bedeutsamkeit zur Erklärung der Symptomatik zu beurteilen.

Den neuropsychologischen Verfahren, wie beispielsweise KI-TAP oder TAP kommt im Kontext der Diagnostik nur untergeordnete Bedeutung zu. Diese können zwar wichtige Hinweise auf das individuelle Leistungsprofil des Kindes geben und einen Prädiktor für ADHS darstellen, sind aber aufgrund ihrer mangelnden Sensitivität und Spezifität als eher unzureichend einzuschätzen (Drechsler et al, 2020. Familiendiagnostische Methoden und/oder die Diagnostik einer begleitenden emotionalen Symptomatik kann ergänzend eingesetzt werden.

Die Diagnosestellung der ADHS ist oftmals aufgrund der hohen Komorbiditäten und differentialdiagnostischen Überlegungen herausfordernd. Grundsätzlich handelt es sich um eine klinische Diagnose, bei der manchmal erst der Verlauf für eine Diagnosestellung entscheidet. Hier ist es jedoch zentral, dass ausgehend von den beschriebenen Auffälligkeiten das Implementieren von Unterstützungs- und Hilfsangeboten nicht vergessen geht.
 

Fazit

Die schulpsychologischen Abklärungen können einen wesentlichen Beitrag zur Diagnostik der ADHS leisten. Lange Wartezeiten durch Fehlanmeldungen können verringert werden bzw. gezielte Anmeldungen zur vertieften Diagnostik können speditiver in der Zusammenarbeit zwischen SPD und Therapeuten bearbeitet werden. Zum Wohle des Kindes und seiner Familie werden zudem zielgerecht Interventionen gesetzt, in der Schule, in der Familie oder beim Kind selbst.

 

 

Literatur

Banaschewski et al. (Hrsg) (2018). Langfassung der interdisziplinären evidenz- und konsensbasierten Leitlinie «Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. AWMF Leitlinienregister

Drechsler R, Brem S, Brandeis D, Grünblatt E, Berger G, Walitza S. (2020). ADHD: Current Concepts and Treatments in Children and Adolescents. Neuropediatrics. 2020 Oct;51(5):315-335. doi: 10.1055/s-0040-1701658. Epub 2020 Jun 19.

 

Über die Autorin

Dr. rer. nat. Juliane Ball hat als Entwicklungspsychologin promoviert und arbeitet als eidgenössisch anerkannte Kinder- und Jugendpsychotherapeutin an der Klinik für Kinder und Jugendliche der PUK Zürich in der Funktion als leitende Psychologin im Ambulatorium Zürich. Zu ihren Schwerpunkten gehören neben den Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen auch die Tic- und Zwangsstörungen.