ZÜPP

Fachartikel - März 2022

AdoASSIP – ein Kurzinterventionsprogramm für Adoleszente nach Suizidversuchen

AdoASSIP ist eine spezialisierte Kurztherapie nach einem Suizidversuch, welche im nachfolgendem Fachartikel vorgestellt wird. Das Programm ist eine Ergänzung zu einer bestehenden Psychotherapie und umfasst ein Vorgespräch sowie vier Sitzungen. Der ZüPP bedankt sich beim Autorenteam und der Zeitschrift Leading Opinion Neurologie & Psychiatrie für die Publikationsmöglichkeit.

Suizidalität und nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben sich zu einem klinisch und gesundheitspolitisch relevanten Problem entwickelt. Die Implementierung von spezifischen präventiven Therapieangeboten für diese Hochrisikogruppe stellt eine grosse Herausforderung dar und erfolgte bisher nur sehr beschränkt [1]. Im erwachsenen-psychiatrischen Bereich wurde ASSIP - Attempted Suicide Short Intervention Program - entwickelt, eine spezifische Kurztherapie zur Vorbeugung von erneuten Suizidversuchen nach einem erfolgten Suizidversuch. In einer kontrollierten Studie von Gysin et al. [2] konnte die Häufigkeit der Wiederholungen von Suizidversuchen in einem Zeitraum von zwei Jahren von 26.7% auf 8.3% reduziert werdden. Mit AdoASSIP wird dieses hoch-wirksame Kurzinterventionsprogramm erstmals auf Jugendliche angepasst. AdoASSIP wird ab Frühling 2022 in 9 (plus vier Halb-) Kantonen eingeführt (AI, AA, BE, BL, BS, GE, LU, NW, OW, SG, TG, VD, ZH). Das Projekt ist durch die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz [3] mit 1.5 Millionen Franken mitfinanziert.

1. Vorgespräch und Einverständnisprozess

Die Teilnahme an AdoASSIP benötigt das Einverständnis sowohl der Betroffenen als auch der sorgeberechtigten Eltern. Weiter ist eine Voraussetzung für die Teilnahme am AdoASSIP eine bereits bestehende therapeutische Anbindung. Am Vorgespräch wird AdoASSIP in einem informativen Vorgespräch vorgestellt und das Einverständnis alle Beteiligten eingeholt. Wichtig ist darauf hinzuweisen, dass eine ausreichende Stabilität und Unterstützung des Umfeldes für den Zeitraum der Intervention vorhanden sein sollte, da mit der Kurztherapie eine intensive Auseinandersetzung mit den früheren Suizidversuchen verbunden ist. In der Regel wird dies von den Betroffenen als positiv erlebt, es gab jedoch auch Fälle, wo Krisengespräche zum Auffangen der intensiven Gefühle notwendig waren.

2. Ablauf der AdoASSIP Intervention

1. Sitzung: In der ersten Sitzung erfolgt ein narratives Interview, welches auf Video aufgenommen wird. In diesem Narrativ soll der oder die Jugendliche möglichst frei und so detailliert wie möglich erzählen, wie es zum Suizidversuch gekommen ist. Am Schluss erhält der oder die Jugendliche eine Hausaufgabe („Suizid ist keine überlegte Handlung“). Am Ende aller Sitzungen erfolgt jeweils eine Einschätzung der Suizidalität. Bei akuter Suizidalität und mangelnder Absprachefähigkeit werden entsprechende Massnahmen eingeleitet.

Zwischen der 1. & 2. Sitzung: Die AdoASSIP-Therapeutin selektioniert die Videosequenzen für die zweite Sitzung.

2. Sitzung: Zuerst wird die in der ersten Sitzung abgegebene Hausaufgabe besprochen. Danach werden die ausgewählten Videosequenzen gemeinsam angeschaut und analysiert. Durch dieses «gemeinsam vor dem Bildschirm sitzen» soll ein kollaborativer Ansatz gefördert werden. Die Analyse der Gedanken, Emotionen, vegetativen Symptome und dem damit verbundenen Verhalten sind zentrale Bausteine der zweiten Sitzung. Sie sollen dabei helfen, gemeinsam den Suizidversuch inklusive dem «suizidalen Modus» zu verstehen und zu verarbeiten. Persönliche Warnzeichen, Schutz- und Resilienzfaktoren sollen aufgedeckt werden.

Zwischen der 2. & 3. Sitzung: Die AdoASSIP-Therapeutin erarbeitet den Entwurf einer schriftlichen Fallkonzeption (ca. ½ - 1 Seite).

3. Sitzung: Die schriftliche Zusammenfassung mit dem Narrativ und dem Ausarbeiten der nicht-gestillten Grundbedürfnisse wird gemeinsam mit dem oder der Jugendlichen am Computer überarbeitet, und längerfristige Ziele/ Massnahmen, individuelle Warnsignale und ein individualisierte Notfallplan werden formuliert. Der Notfallplan wird elektronisch in der RobinZ App abgespeichert, einer an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie Zürich entwickelten App für das Monitoring von psychiatrischen Symptomen [4]. Am Ende der dritten Sitzung wird das kommende Familiengespräch vorbesprochen.

4. Sitzung: Diese wird speziell für AdoASSIP eingeführt. Die/der Jugendliche liest in der Regel seine in der dritten Sitzung zusammengefasste Fallkonzeption den Eltern vor. Die Eltern können ihre Gedanken und Ansichten einbringen. Wenn möglich werden die Eltern im Notfallplan integriert. Mit Einverständnis des Jugendlichen kann der ambulante Therapeut in die vierte Sitzung miteinbezogen werden. Soweit sinnvoll und möglich kann die Weiterarbeit an wichtige Themen an den nachbehandelnde Therapeuten oder Therapeutin delegiert werden.

Weitere geplante Kontakte: Es ist vorgesehen, dass die Betroffenen im ersten Jahr alle drei Monate und im zweiten Jahr alle sechs Monate mittels halbstandardisierten schriftlichen oder elektronischen Nachrichten kontaktiert werden. Ziel davon ist, an den Notfallplan zu erinnern und den Effekt der AdoASSIP Intervention zu konsolidieren.

3. Erwartete Vorteile

AdoASSIP hat viele erwartete Vorteile sowohl auf individueller, klinischer, gesellschaftlicher als auch auf wirtschaftlicher Ebene. Nebst einer Sensibilisierung und Entstigmatisierung der Jugendsuizidalität erwarten wir durch AdoASSIP einen Rückgang der Suizidversuche bei Adoleszenten. Weiter trägt AdoASSIP zur systematischeren Erfassung von Suizidversuchen bei und vernetzt und entlastet relevante Akteure entlang der Versorgungskette. Wir erwarten bei flächendeckender Anwendung in dieser Hochrisikogruppe für wiederholte Suizidversuche, dass es längerfristig auch zu Kosteneinsparungen kommt. Weiter sind die Evaluation des Programmes und die Identifizierung jugendspezifische Risiko- und Schutzfaktoren für Suizidversuche und Suizide integraler Bestandteil des Gesamtprojektes.


Weitere Informationen und Kontakt

Das AdoASSIP Programm wird im Kanton Zürich an der Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich durch geführt. Die Kosten für die Sitzungen werden von der Krankenkasse abzüglich Franchise und Selbstbehalt übernommen.

Mögliche Patientinnen und Patienten können direkt angemeldet werden: adoassip@pukzh.ch oder unter Telefon 043 499 26 26.

 

Autoren

Martina Preisig, Marianne Rizk, Isabelle Häberling, Dagmar Pauli, Susanne Walitza, und Gregor Berger+

+Corresponding author: Gregor Berger, Leitender Arzt, Krisen-, Abklärungs-, Notfall und Triagezentrum (KANT Zentrum), Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (KJPP), Psychiatrische Universitätsklinik Zürich (PUK). gregor.berger@pukzh.ch oder adoassip@pukzh.ch

AdoASSIP-Konsortium

Antragsteller:

ZH  PD Dr. Gregor Berger, KD Dr D. Pauli, Prof. Dr. S. Walitza: Psychiatrische Universitätsklinik, Zürich

Partnerkantone:

  • BE Prof. Dr. M. Kaess, PD Dr. Jochen Kindler: Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie & Psychotherapie UPD Bern
  • BS/BL Prof. Dr. A. Di Gallo, Evelyn Herbrecht; Dr. B. Contin: Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychosomatik des Universitätskinderspital beider Basel (UKBB)
  • GE Dr. A. Edan, Eléonore Anzalone: MALATAVIE-Unité de crise, Département de la Femme, de l’Enfant et de l’Adolescent,
  • LU (OW/NW) Dr. O. Bilke, Dr. C. Frey: Luzerner Psychiatrie LUPS, Kinder- & Jugendpsychiatrie, Luzern
  • SG (AA/AR) Dr. U. Müller Knapp: Klinik Sonnenhof; Dr. S. Erb: Kinder und Jugendpsychiatrischer Dienst
  • TG Dr. B. Rhiner, Amir Yamini: Kinder und Jugendpsychiatrischer Dienst KJPD TG und Notfallstationen Frauenfeld & Münsterlingen
  • TG PD Dr. L. Wöckel Clienia Littenheid (KJP Vertragsklinik vieler weiterer Kantone)
  • VD Prof. Dr.  K. von Plessen, Dr. C. Kapp: Département de psychiatrie, CHUV Prilly
  • ZH Antragssteller & Dr. S. Kupferschmid: Integrierte Psychiatrie Winterthur IPW, Kanton Zürich

Suizidpräventionsexperten ASSIP Experten / Berater:

Prof. Dr.  Konrad Michel, Dr. Anja Gysin-Maillard (ASSIP), Martina Blaser (Suizidprävention ZH)